Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
verzagter.
Steigenberger Hotel, Stuttgart, den 11. Januar
Absurd-amüsanter Klatsch der Funkredakteurin über Hans Mayer, der bei seinem Zahnarzt Hans Meier beleidigt aus dem Zahnarztstuhl, Gebiß in der Hand, aufspringt und die Praxis verläßt, weil die Assistentin ihn mit «Guten Tag, Herr Mayer» begrüßt.
Steigenberger Hotel, Aachen, den 18. Januar
Je tiefer ich in die «Provinz» vordringe, desto «erfolgreicher» die Tournee; wie bei Marika Rökk: in Aachen 250 Leute in der Buchhandlung, enormer Beifall und Gott sei Dank kein langes Palaver – 3 Fragen, der Scheck und weg …
Einen guten Barolo mit Knipp, der mich vor 20 Jahren mal gezeichnet. Nett, aber dünn. Ist in Aachen «Professor», also Zeichenlehrer geworden. Spricht nicht ohne Genugtuung davon, daß «man ja leider» Wunderlich einen Kitschier schimpfe.
Es stimmt eines: Er hängt in keinem Museum (und wo er hing, sind seine Sachen ins Depot gewandert). Wie er eigentlich damit fertig wird? (Da er’s, bei seiner enormen Intelligenz, natürlich «realisiert».) Der Ausweg ist wohl der Rückzug aufs Geld nach dem selbstgezimmerten Motto: «Wohlleben zu Lebzeiten, Nachruhm danach ist besser als arm zu Lebzeiten und – à la van Gogh – berühmt/anerkannt/hochbezahlt, wenn man tot ist.»
Dorint Hotel, Freiburg, den 22. Januar
Das Klagelied der alten, provinztingelnden Marika Rökk: in 3.klassigen Hotels («interviewt» von Bübchen, die das Gespräch beginnen mit «Leider habe ich Ihr Buch nicht gelesen» und beenden mit «Wo und wann sind Sie geboren?»).
Wenn man mir erzählt, Sten Nadolny macht eine Reise mit 150 (!!) Lesungen, wird mir schwindelig. Es ist würdelos und dumm, selbst wenn wie gestern in Freiburg «erfolgreich», da mußte «das ganze Haus» geöffnet werden, weil 500 Leute anstanden.
Auch die Buchhandlung ist eher schnöde – niemand holt einen ab, 2 Minuten nach der Lesung (und nach dem Scheck) sind die Leute weg, dann steht man da in einer fremden Stadt, sieht sich das ewige Rathaus oder gotische Münster an und sieht auf die Uhr, wann der nächste Zug geht – in den noch furchtbareren Ort.
Badischer Hof, Bühl, den 27. Januar
Zermahlen, zermürbt im Inter-City «nach Hause»: So recht verstehe ich mich selber nicht. In Wahrheit war’s doch eine komfortable Reise, fast ausnahmslos in Luxus-Hotels, selbst die Flüge 1. Klasse, oft – wie gestern abend in Bühl, aber auch in Freiburg – herrlich gegessen, dazu noch sehr erfolgreich, alle Säle – es waren überall die dem Anlaß entsprechenden größten; Adolf Muschg, sagte man mir, «ist gut für ein Drittel Ihres Publikums» – proppevoll, oft mußten die Schlangestehenden weggeschickt werden – und dennoch mag ich das nicht. Mich interessiert «mein Publikum» nicht; sie sollen lesen und die Klappe halten. Vor allem mich nicht mit so profunden Fragen löchern wie nach dem J in meinem Namen oder ob ich mit Carl Raddatz verwandt sei oder warum Kurt Tucholsky «Schloß Gripsholm» geschrieben habe. Vielleicht ist es das, was mich so irritiert: daß die Leute, obzwar «an Büchern interessiert», so strohdumm sind respektive bleiben – das stellt einen Hersteller der Ware Buch natürlich in Frage.
Wie ein Trost zum Abschied gestern abend das Auftauchen des alten MERKUR-Paeschke, der nicht nur hingerissen, geradezu gerührt von meinem Text war («Sie sind Deutschlands bester Essayist») – und der Mann versteht ja was davon! –, sondern auch ein geradezu erschreckendes FJR-Gedächtnis hat: Er wußte noch die Titel meines Lukács- und meines Kołakowski-Essays, ganze Sätze aus dem Marx-Buch und dem Heine auswendig. Am herrlichsten die literarischen Anekdoten aus seinem jahrzehntelangen Fundus, so etwa von dem stets abgelehnten Manuskript eines später wegen Unfähigkeit rausgeflogenen Justitiars der XY-Werke namens – Richard von Weizsäcker.
Donner’s Hotel, Cuxhaven, den 31. Januar
Ich reise durch einen frostig-blassen Norden unter fahler Wintersonne; eben noch schwäbischer Barock, badisches Fachwerk – nun Hering mit Bratkartoffeln, Bier und Korn, Türgriffe in Form von Ankern und in den Schaufenstern Buddelschiffe statt Madonnen. Ein lustiger «Deutschland-Verschnitt», diese ganze Reise; wenn mir lustig zumute wäre …
Typische Bizarrerie meines Lebens: an Nordmeerdeichen und windschiefen Krüppelkiefern fahre ich im Zug vorbei – aber redigiere ein Paul-Bowles-Manuskript («bin» also in Marokko) bzw. lese als Vorbereitung der März-Reise ein
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