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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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es drum, dir zu Ehren, Tor!» – wie eine Gabe dargeboten dem «kleinen Franzl», den er zugleich hoffärtig verachtet). Neben dem ewigen «Wir hatten 17 Stück Gepäck» oder «Hesse wohl gekleidet und angenehm plauderig», «der Tag verletzt durch zu frühes Aufstehen» doch diese tiefe Ergriffenheit «von dem unvergleichlichen, von nichts in der Welt übertroffenen Reiz männlicher Jugend», die er zugleich als seinem Alter und seinem Lebensgesetz ungehörig ironisch abwehrt: «Zurückschrecken vor einer nach ihren Glücksmöglichkeiten sehr zweifelhaften Wirklichkeit.» Übrigens auch schön-nachdenkliche Reflexionen über den Sinn dieses Tagebuchs überhaupt mit einem selbst-mokanten: «So soll’s die Welt dann eines Tages erfahren …»
    Haus Kampen, den 20. Januar
    Noch immer haftend-starker Eindruck der Thomas-Mann-Lektüre; unter vielfältigen Aspekten, z. B. dem, daß er ganz selbstverständlich sich als «Weltmacht» begreift, die mal mit Nehru lunchen «muß» und mal, wenn Tochter Erika Einreiseschwierigkeiten ins McCarthy-Amerika fürchtet (sie ist ja Engländerin), damit droht: «Dann fliege ich mit ihr» – also voraussetzend, daß, wer mit IHM fliegt respektive einreist, auch keine Schwierigkeiten kriegen kann. Selbst dem niedlichen Kellner, in den er sich vergafft hat, überlegt er eine Empfehlung zu geben, als sicher voraussetzend, daß ein Hotel Dolder respektive ein anderes in Genf auch auf dem Kellner-Niveau parieren würde, wenn auch nur 2 Zeilen VON IHM vorlägen. Das Verblüffendste: Es stimmt wohl, er WAR eine Weltmacht – und selbst en face so berühmt, daß fast jeder ihn erkannte – und das in einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gab!!
    Im selben Ton gelassener Selbstverständlichkeit und Beleidigtheit («the queen is disgusted …») erklärt er den USA heimlich den Krieg und will sie ebenso heimlich – wegen McCarthy – verlassen. Auch das wiederum verblüffend (und für mich Spießer lehrreich), wie unaufgeregt dieser 75jährige erörtert (und ja wenig später beschließt), noch einmal aus-, um-, wegzuziehen, Haus zu verkaufen, sich neu einzurichten, eine gerade Heimat gewordene Heimat zu verlassen – wohl etwas mehr Umstand und psychischer Stress als mein Umzug 2 Straßenzüge weiter neulich!! (Selbst wenn man außer acht läßt, daß es ihn offenbar finanziell nicht beschwert.)
    Wobei auch der finanzielle Zuschnitt dieser Existenz stets wieder verblüfft: immer zwei Schlafwagenabteile mit je separatem Bad, immer nicht nur zwei, sondern «mehrere» Zimmer, wenn nicht «schöne Wohnung» in den teuersten Hotels – daß es in Zürich außer dem Dolder oder dem Baur au Lac noch andere Herbergen geben mag, ist offenbar garnicht vorstellbar.
    Und dann als Lebensbilanz: «Angenehm war es nicht.» Er fängt allerdings, sich selber Zuspruch gebend, solche Verzagtheiten auf mit der Selbstbestätigung des «Weltruhms» oder dem von Sonne und Wärme unterfangenen Leben.
    Wie immer: Welcher moderne Autor würde mich so faszinieren?
    Apropos: heute der 2. skurrile Brief von Kempowski, in dem er akribisch genau und mitleidlos seinen Schlaganfall schildert, ohne Weinerlichkeit von dem «deutlich zu sehenden Matsch im Kopf» spricht (er hat sich sein Hirn-Röntgen-Foto ans Fenster gehängt!). Ein veritabler Autor – denn der MUSS Voyeur sein, auch seiner selbst. Und diese Ironiedistanz zu sich selber hat ihn auch in Bautzen vorm Untergehen bewahrt (in den Briefen wird er nur weich, wenn er von mir/über mich spricht und dem Dank, den er mir schuldet). Hoffentlich stimmt nicht, was er von Christa Wolf erzählt – sie habe 1972 einen Preis abgelehnt, weil sie ihn nicht «zusammen mit diesem Häftling» entgegennehmen mochte??
    MEIN Zustand bessert sich nicht – trotz stundenlangen Spaziergängen im inzwischen märchenhaften Wetter, kalte Wintersonne, nachts ein geradezu irrer Vollmond, der riesig oder orangen gestern abend über dem Watt hing wie eine Naturkatastrophe; oder gerade jetzt blicke ich VOM Schreibtisch in einen abenteuerlichen Sonnenuntergang, die Fenster der kleinen Häuser blinken wie rote Augen von geduckten Schafen in den Himmel. Kitschig-schön.
    26. Januar
    Anhaltende Depression. Störbar durch die lächerlichste Geringfügigkeit, ängstlich, wackelig, unbeschwingt.
    Es muß – nicht, um mich, Gott behüte, zu vergleichen – Camus ähnlich gegangen sein, wie seine Tagebücher ausweisen: Während alle Welt den Erfolgreich-Beneidenswerten sah (noch dazu den

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