Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Nobelpreis), war er eine verschattete Existenz, von Ängsten, Nöten und Sorgen gejagt, zutiefst an sich zweifelnd, privat unglücklich (der schöne Mann!) und umgetrieben von Vergeblichkeits-Gedanken.
Ich freue mich nicht einmal auf die Südafrikareise – im Grunde eine Frechheit: Wer kann sich das schon leisten, 4 Wochen Südafrika in besten Hotels, mit komfortablen Leihwagen usw.; und ich sitze und blase Trübsal, statt Spaß an den Vorbereitungen zu haben …
Im Schwimmbad. Ein «Herr» (ich glaube Chefredakteur so einer Lifestyle-Zeitschrift, der mich gelegentlich auf meine Artikel anspricht; wohl ziemlich reaktionär): «Zu Ihrem Artikel über diese Moskauer Protokolle muß ich Ihnen sagen: Was haben wir in der Kriegsgefangenschaft lügen müssen, um durchzukommen. Überhaupt – was haben wir bei den Russen durchgemacht. Und zu lesen haben sie uns diesen Schund von Weinert und Bredel gegeben.»
Schon war ich auf Seiten von Weinert und Bredel. Dieser Herr hat ja gewiß vorher auch nicht Rimbaud gelesen, sondern Anacker, Binding oder Blunck. Und wer hat ihn nach Rußland eingeladen?
Meine Zwiespältigkeit: nicht nur in dieser kleinen Schwimmbadscene. Ich gebe gleichsam alle 5 Minuten dem Anderen recht, vor allem in dieser STASI- und DDR-Debatte: mal Biermann, mal Grass, mal Dohnanyi, wenn er am TV Bärbel Bohley anfetzt, und 5 Minuten später wieder ihr, weil ich finde, er hat sich ungehörig Verhör-haft gegen sie benommen. Mal finde ich, Kunert hat mit seinem Akademie-Austritt recht, weil die Staatsdichter der «Zone» en bloc übernommen werden – mal finde ich, Gott behüte, MIT Jens, daß man denen eine individuelle Neuzuwahl nicht zumuten kann. Mal tun die mir dort leid, mal verachte ich sie in ihrer Mischung aus Faulheit, Larmoyanz und Trauer. Trauer um was?
8. Februar
Unvergnügtsein selbst beim Musikhören – neulich schon in Kampen, wo ich eine wunderbare Rachmaninow-Aufnahme praktisch garnicht hörte; oder gestern abend beim Argerich/Kremer-Konzert, das besonders schön war, ein ganz mozartschheiterer Beethoven, ein romantischer Schumann, wie ich es mag, und zwei (vor allem außerprogrammäßige) Stücke von Prokofjew, die in ihrer vollendeten Musikalität und Grazie hinreißend waren: Aber ich nahm alles nur «auf einer Schiene» auf und wahr. Auf der anderen fuhren die schweren Züge der Sorge.
Unlogisch auch das; denn wenn’s so weitergeht, werde ich das «Alter» garnicht erreichen, ich weiß garnicht, ob ich «das Alter» erreichen WILL: dieses Regredieren in die Kindheit. Entsetzlich, wenn man alte Männer beobachtet, deren Frauen nun krümelabwischend und krawattezurechtzupfend wieder ihre Mütter sind und die wie im Laufställchen nun nicht die ersten Schritte machen, um die jungen Glieder zu erproben, sondern am Boden Turnübungen machen (ICH!), um die alten Glieder zu dehnen. «Das» Glied allmählich zurückschrumpfend in die Bedeutungslosigkeit der Vorpubertät.
Bewundernswert, wie Juden anscheinend besser (weniger) altern; nicht nur die Streitsucht des gleich 90jährigen Hans Sahl dafür ein Beispiel; auch Tabori, dessen MEIN KAMPF (Premiere) mich doch sehr beeindruckt hat. Allein die Huhnschlacht-Scene glanzvoll: wie man dadurch, daß man von etwas GANZ ANDEREM redet (will sagen: ein ganz scheinbar neben «der Sache» entlanggleitendes Bild arrangiert), GENAU die Sache trifft: genial. Und grausig. Die Hamburger Premierengäste (so wörtlich einer der Schicki-micki-Ärzte, die man da immer trifft) fanden das «lustig». Sie hatten ein Kabarett gesehn und keine Farce. So ist Hamburg.
Max von der Grün: «Ich mag den Raddatz ja, er ist zwar sehr schwierig, aber ich fahre auch einmal pro Jahr nach Reading, ich LIEBE Oscar Wilde.»
13. Februar
Mein Mißvergnügen steigert sich durch zahllose kleine «nervliche» Verletzungen: Durch die geschlossene Tür meines Sekretariats höre ich die Schulze sagen: «Nein, Herr Grass, Sie sind auf dem Apparat von Herrn Raddatz gelandet, ich kann Sie aber mit Herrn Greiner verbinden.» Oder Gaus ruft an, er habe den besten Text seines Lebens geschrieben und ich müsse ihn unbedingt und sofort lesen. Peng. (Der Text natürlich über DDR, IST übrigens gut – wenngleich ich in vielem widerspräche.) Oder Ralph Giordano, der anruft, um mir zu sagen: «Morgen (also: heute) erscheint ein offener Brief an Walter Jens von mir, den MÜSSEN Sie lesen.» Umgekehrt?!?
Ging den Abend darauf ins Theater: ein wieder sehr gutes, mich sehr bewegendes
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