Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Geist und Macht zur Kenntnis genommen hatten, war auch nur mehr da, die Einladenden nicht, die Minister nicht, die Abgeordneten nicht. Ich stand, ohne Gruß, Dank oder gar «Wir haben noch einen Tisch reserviert und würden uns freuen …» herum und war (Gott sei Dank) um 21 Uhr schon wieder zu Hause. Man stelle sich das in Frankreich vor.
1992
1. Januar
Also ein neues Jahr. Was es wohl bringen wird? Persönlich und historisch?
Der Zusammenfall des Riesenreiches im Osten nährt natürlich ALLE Ängste, von Hungerrevolten bis zu marodierenden Horden, die durch Europas Straßen ziehen werden (in meiner Spießigkeit habe ich DESWEGEN hier alles verbarrikadieren lassen mit schußsicherem Glas, elektrischen Jalousien usw. – welche Übertechnisierung mich wiederum nervös macht …).
Das ausklingende Jahr angenehm-friedlich verbracht, außer der (meiner) Entgleisung, in ein Musical zu gehen, ON THE TOWN von Bernstein – von niedrigster Billigkeit. Gingen in der Pause, aßen festlich mit herrlichem Champagner, Kerzen, Orchideen, hörten mal keine klassische, sondern lustige alte Chanson-Musik, Piaf, Marlene, Sinatra, Brel, Ella, «nahmen» den Käse im Wintergarten, der herrlich illuminiert war von den Silvesterraketen, die über den Fluß geflogen kamen. Mitternacht unten am Ufer des Gartens, im Fluß spiegelten sich die phantastischen Böller.
Ich wünsche mir also noch ein paar Jahre. Let’s try .
12. Januar
AIDSangst. Was ich wohl täte, wenn ich wüßte, ich hätte diese Krankheit? Hätte ich den Mut, Schluß zu machen? Ich habe ja als geradezu «Lebensprogramm» ohnehin vor, mein Ende selber zu bestimmen – aber werde ich dieses mir gegebene Versprechen je einhalten, je wahr machen? Die Angst vor siechem Alter, vor Geldlosigkeit und mehr und mehr zunehmenden körperlichen Beschwerden steigt. Dabei wundert mich die eigene Angst garnicht, wenn man denkt, wie umgeben von Chaos, wenige Kilometer weit weg, man auf dieser Insel BRD lebt: Krieg und Chaos und Hunger und Not 2 Flugstunden weit weg, das sich auflösende Riesenreich Sowjetunion, das nun – warum finde ich den Namen so scheußlich? – GUS heißt, kann von Hungerrevolten bis zu Atomwaffen-Schwarz-Handel die Rest-Balance, die Europa noch hat, kippen.
Im Zusammenhang damit eine Beobachtung, die fast einen Aufsatz wert wäre: die bald totale Vereinzelung der Intellektuellen. Ich muß mich da SEHR revidieren bzw. einen profunden Fehler eingestehen: hatte ich doch ernsthaft über viele Jahre hinweg geglaubt, man könne mit Schriftstellern befreundet sein. Während in Wahrheit doch die Berührungsfläche etwa der von zwei Quecksilberperlen entspricht: Jeder rollt den Sisyphusstein seines kleinen Rühmchens vor sich her, Rühmkorf ist offenbar Yeats und Brasch Shakespeare und Muschg Tolstoi und Grass sowieso Flaubert und Proust zusammen, und es geht NUR um «Ich habe gerade … fertig». Sie haben alle AIDS im KOPF statt am SCHWANZ.
Kampen, den 14. Januar
Auch meine «Flucht» hierher funktioniert nicht: Meine sonderbaren Geldängste weichen nicht.
Ich kann damit nicht umgehen, abstrakte Zahlen oder Anlagesysteme verstehe ich buchstäblich nicht (habe nur ständig das Gefühl, das Geld ist weg; weil verborgen hinter anonymen Kolonnen), es existiert für mich nur in Dingen – sei’s ein Auto, ein Bild, eine Vase, natürlich eine Wohnung. Aber «die Idee» Geld geht buchstäblich nicht in mein Gehirn – und so laufe ich förmlich fort vor allem, was mit diesem abstrakten Geld zu tun hat: mache oft tagelang Bank-Couverts nicht auf, schiebe Rechnungen hin und her (bin immer erst froh, wenn sie bezahlt sind) und rechne wie ein Kind mit den Fingern: «Wenn das zu dem kommt und ich dann von dort noch die Summe X kriege …»
Kampen, den 19. Januar
Verregneter Sonntag ohne Spaziergang.
Thomas-Mann-Tagebücher beendet, die dann doch aus den Manicure-Pedicure-Pudel-unleidlich-Niederungen in abgründige Tiefen tauchen: eine rührend-intensive Verliebtheit in einen Hotelkellner. Passagen von Größe und Ehrlichkeit beim Sich-Befragen, ob er denn «gewollt» hätte, wenn es überhaupt gegangen wäre – und der Einsicht, daß er seine (fast) ungelebte Erotik/Sexualität immer in sein Werk «investiert» habe: «Arbeit als Ersatz für das Glück» (dabei skurril, daß er einen nächtlich-steifen Schwanz als «Ermächtigung» bezeichnet, offenbar nicht an das «Ermächtigungsgesetz» denkend, und die Ejakulation als «Auslösung», mit anschließendem: «Sei
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