Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
sagen zu können, was eher mißlang, so daß wir – wie bei einer schlechten Tonspulenqualität – übereinandersprachen: Ich hörte ihn reden, während ich redete; will sagen: Keiner hörte dem anderen zu.
    Nur EINE Bemerkung, da spürt man den alten, sozial interessierten Hochhuth, packte ihn: als ich erzählte, daß man Manfred Sack nach 47 Jahren ZEITzugehörigkeit, als ihn einer der Chefs im Lift traf, mit den 2 Silben verabschiedete: «Tschüs, Sack!» Das war’s.
    10. Februar
    Out of the blue sky Anruf von Biermann, mit dem ich seit Jahren nicht telefoniert habe: Wie eh und je singt er mir am Telefon Lieder vor, schwätzt von Intrigen der Brecht-Tochter und Suhrkamp und seinen Erfolgen und seinen Frauen, ca. 1 Stunde lang. Ich finde ihn ja nach wie vor komisch und begabt, und meist hat er auch recht mit seinen Sottisen; aber gut, daß das alles dosiert ist.
    14. Februar
    Winterstürme weichen dem Wonnemond, Beifallsstürme bleichen den Bedeutungshof – orgiastischer Applaus bei Marthalers Sinnlosigkeits-Potpourri «Die Spezialisten», einem Schlafrausch der Leere, Bröckchen aus Business-«Denglisch» («Produktionsakkumulation») und Lufthansa-Deutsch («Blasen Sie sich am Mundstück der Schwimmweste auf»), dazwischen etwas existentialistischer «Boogie-Woogie», Hinfallen und Kletterstangenkrabbelei, bejubelt vor allem, wenn Koffer plumpsen oder an den Schwanz gegriffen wird: frenetisches Ohne-Sorg-Wohlbefinden eines sehr leicht zu amüsierenden Publikums – was auf St. Pauli der Auftritt in der Unterhose, ist hier die Ballett-Parodie «Mann im weißen Glitzerhemd» – watthamwadagelacht.
    Das Ganze wäre ernsthaft – und das heißt: auch politisch – zu analysieren. Es folgt nämlich dem Prinzip der Trivial-Literatur: Das Erwartete wird bedient. Das «Erwartete» war früher der Graf und das Dienstmädchen und ist heute das «Hat alles ohnehin keinen Sinn». So wird hier die Endlos-Schleife der Friseur-Musik zur Repetition des Bedeutungslosen; größter Lacher: «Stört Sie, daß mein Mantel da hängt?» Und es hängt nirgendwo ein Mantel. 30 x «Es geht ihm schon besser» oder «Ich möchte, daß es mir gutgeht»: Rosendienstag.
    20. Februar
    Rollsplitt vom Berlinbesuch.
    Freund Gerhard Schneider in seiner neuen 3-Zimmer-Wohnung, stolz wie ein Schloßbesitzer, das 1. Bad seiner jahrzehntelangen Ehe. Schlechtes Gewissen angesichts meiner nun 2 «Ferienwohnungen», die besser equipiert, größer und eleganter, geschweige denn mein «Hauptwohnsitz».
    Eindruck, daß sie VOLLKOMMEN in einer/ihrer Ost-Welt leben; mein – ungerechtes – Erstaunen, wenn sie von den Bonnern sprechen, als sei es auch ihre Regierung; dabei sehr richtig-nüchterne Urteile. Seine Ostpingeligkeit geht so weit, daß er in einem Dokumentenband (den er für mein Projekt besorgt hatte) seitenlang die Druckfehler anstreicht und/oder nach einem längeren Gespräch sagt: «Jetzt wollen wir mal das Resultat der Diskussion zusammenfassen.»
    Anschließend mieses Essen mit Bier, was beide alles herrlich fanden, so herrlich, daß sie anschließend zu Hause noch 1 Flasche Wein getrunken haben, während ich deprimiert im Bette des Hotels lag, im leeren Doppelbette.
    Das Abendessen am nexten Tag mit (nun auch PEN-Präsident) Christoph Hein auf andere Weise bizarr: Er ist nicht nur – wie ich finde – ein sehr guter Schriftsteller, sondern auch ein lustig den Champagner und Wein genießender Skeptiker, wenn nicht gar Zyniker. Den absurd klaffenden Graben zwischen der Existenz seriöser Autoren, die oft nicht das Geld haben, zu ihren schlecht oder gar nicht bezahlten Lesungen zu fahren, und den gigantischen Honoraren der öfter «einleitenden» TV-Stars (die bis zu 20.000 pro Abend kassieren) schilderte er sarkastischamüsiert, und auf mein «Wie gut, daß es wenigstens Christoph Hein nicht so geht» meinte er mit geradezu strahlender Ironie: «Na, ich kann Ihnen ja mal meine Verkaufsabrechnungen schicken.»
    Dann aber begann ein kleiner Bösartigkeits-Galopp quer durch die Gegenwartsliteratur, den er mit einem «Was oder wer, glauben Sie, wird bleiben?» wie mit einem Schachzug eröffnete. Christa Wolf hat ihr Publikum verloren – Grass ist berühmt, aber ungelesen – Walser eher notorisch, aber auch ungelesen – Enzensberger ein Scharlatan (meine Charakterisierung «Nurejew der Literatur» wurde wie ein Geschenk entgegengenommen) – Arno Schmidt bis auf die ersten Bücher ein Bildungsspießer. Es blieben nur Thomas Mann und Brecht.

Weitere Kostenlose Bücher