Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Améry. Aber wer WILL denn die Bibliothek von Améry sehen, das war ein netter Mann, ich mochte ihn ja, wir verstanden uns gut, aber er spielte doch in der Provinz-Liga. Zu meinem Schock ist’s aber ebenso mit Benn: VOLLKOMMEN ungeordnet, Hauptsache ‹haben, haben›, nämlich auf «Mikrochips», von niemandem richtig katalogisiert, die Geburtsurkunde neben einem Brief von Erika Mann, die Todesanzeige neben Rezeptblöcken, albernste Ferienfotos der offenbar saudummen letzten Frau, die sich auch noch in ihren Reise-Alben erdreistet zu «dichten»: «Jetzt aber schweift das Aug’ voll Schmerz, denn alsobald geht’s runterwärts» (davor neckisch die liebe Ilse Benn 1966 auf dem Autokühler und ein Berg im Hintergrund – – – – daneben ein wichtiger Brief von Heinrich Mann, dann wieder ein Foto der Benn-Tochter Nele: ungeordnetes Chaos, aber ‹technisch auf dem letzten Stand›. Davor knieen dann irgendwelche Provinzprofessoren, weil sie ‹ein Seminar über Benns Tagebücher› abhalten wollen in Oldenburg oder sonstwo – aber es GIBT keine «Tagebücher» von Gottfried Benn, was es gibt, sind seine TERMINKALENDER, die irgendwer – nicht ER – «Arbeitsbücher» genannt hat, in die er Patiententermine, Besorgungen à la «Reinigung abholen» und Medikamente hineingekliert hat – – – UND, allerdings, das ist das Schön-Bizarre an dem Mann, gelegentlich ein Gedicht.) Ich saß, verzweifelt, vor dieser ständig kaputten Supermaschine in diesem vollautomatisierten Haus: «Dafür brauchen Sie einen Chip, den kriegen Sie am Automaten, dafür brauchen Sie eine elektronische Karte, die kriegen Sie am Automaten im Untergeschoß.» – Telefonieren? «Nein, telefonieren können Sie hier nicht – im Keller ist ein Kartentelefon, aber ich kann Ihnen kein Geld wechseln, damit Sie eine Karte kaufen können.» – «Eine Tasse Tee wollen Sie? – da müssen Sie an den Automaten gehen, aber der nimmt nur 1-Mark-Stücke.» Ein Käfig nicht voller Narren, sondern voller Schranzen, die an Mittagspause oder «Hier dürfen Sie nicht rauchen» oder «Ich muß heute früher gehen» interessiert sind und in dem abgebrochene Akademiker in den Häuf’chen herumstochern, die ein anderer gelegt hat (tue ich auch, stimmt, stochere in Tucholsky-Heine-Benn-Häufchen, GEMACHT haben DIE es – – – – aber immerhin kommt bei mir auch ein kleines Häuf’chen zustande und bei denen allenfalls die Entdeckung einer ‹Les-Art›, eines Kommafehlers und das erhabene Forschungsergebnis, daß weder Rilke noch Thomas Mann noch auch Benn Duden-gerecht richtiges Deutsch schrieben. Hélas!).
Für mich hatte der Besuch noch die possierliche Pointe, wie die Herren Direktoren auf der alleruntersten Kante der Unhöflichkeit entlangschlidderten. Der Herr Direktor Ott sah mich an irgendeinem Wackeltisch den Automatentee trinken, kam, um mir zu sagen: «Hier dürfen Sie nicht sitzen, hier gibt es gleich einen Empfang für den Internationalen Frauentag»; wozu, recht hat er, ich ja wahrlich nicht gehöre. DAS war die Begrüßung des Hausherrn. Der andere, Herr Dr. Meyer, war Gott sei Dank unsichtbar, vermutlich aus Angst vor mir krank geworden. Himmelangst kann einem werden, wenn man sich vorstellen muß, ebenso als inzwischen nun nicht mehr ‹Karteileiche›, sondern Mikrofiche-Leiche da ‹abgehangen› zu werden, niemand wird eine Ahnung haben, WAS da eigentlich in dem FJR-Nachlaß steckt (zumal, wenn’s auch großmäulig sich anhört, MEIN Material wesentlich vielschichtiger und interessanter ist: Es gibt kein einziges Foto von Benn mit einem zeitgenössischen Künstler, es gibt eine läppische Karte von George Grosz an ihn – wenn ich das vergleiche mit meiner Goldmine …), sie werden, wenn ich Glück habe, alles abheften, und hinter irgendeiner Stahltür ‹liege› ich dann. Nun ja, wo sonst (außer in Keitum unter einem Rasen). Dabei habe ich noch Glück, weil sich meiner Dinge der so kundige wie gewissenhaft-höfliche Ulrich von Bülow annimmt, seines Zeichens Vertreter des Herrn Meyer.
22. März
Ja, ja, man stirbt von seinem 30. Lebensjahr ab jeden Tag ein wenig, in Wahrheit ja vom Moment an, da man auf der Welt, da ‹ein Weib euch eine Windel gab› …: ABER es stirbt sich, scheibchenweise, im 70. Lebensjahr doch ungemütlicher, wahrnehmbarer, schmerzhafter. So bin ich mittendrin in einem ‹geistigen Sterben› auf Raten. Mort à crédit – – – – – – Schweigen ringsum; Vorschläge von mir in der ZEIT – egal,
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