Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
ist ja egal, wie bedeutend das Produkt ist/wird, das sich diesem Gesetz verdankt (auch Rilke war nicht Goethe): Entscheidend ist der innere Sensor. Und der ist nicht gerichtet auf Palmen, Meeresglitzern oder Auto, Blumen – alles «auch», aber die Situation des Echolosen meiner Arbeit, des Abgewimmeltwerdens, des «O Gott, da meldet der sich wieder mit so unerbetenen wie unwillkommenen Vorschlägen»: lähmend.
Insofern – Mephisto-Kerstens Anregung! – die Rilke-Lektüre ein konvexer Spiegel, da der sich nun wahrlich «der Welt» verweigerte, selbst in den, wie sein Briefpartner Stefan Zweig es nannte, «Bordellspiegel des Ruhmes» nicht blicken mochte; übrigens hatte er kaum Ruhm, sein Tod wurde in wenigen Zeitungen mit wenigen Zeilen bedacht.
6. März
Wachsende Enttäuschung bei Lektüre der Gide-Tagebücher: doch fast nur dünn aufgegossener Literatur-Klatsch (mit sehr/zu vielen Einschüben von Attacken auf ihn, zumal über Leute und Phänomene, die heute meist vollkommen verblaßt – was allerdings dem Herrn FJR mit seinen Tagebüchern ebenso passieren wird!). Selten geschliffene Formulierungen wie «Kein Strom – ein Destillat» über die Arbeit eines Kollegen, verblüffend die Klage über «Nicht-anerkannt-Sein» des heute so berühmten und doch wohl auch schon zu Lebzeiten nicht «Unbekannten» auf die Anfrage einer Akademie, welche sonstigen Ehrungen hinter seinen Namen zu setzen seien: «Anfangs haben die Ehrungen mich gemieden, dann habe ich die Ehrungen gemieden.» Zugleich – bei ständigen Klagen über Müdigkeit, Antriebsschwäche und Desinteresse: «alle Triebkräfte erlahmt» – der Stolz, daß eine Buchhandlung am Boulevard Saint-Germain «ausschließlich meine Bücher» im Fenster ausstellt (könnte von Thomas Mann sein; nein, von JEDEM VON UNS). Berührend bei dem Älterwerdenden, verglichen mit mir heute, dem «jungen Mann», nämlich knapp 60: «All die Gedanken, die einst vom Begehren genährt wurden, alle Unruhe, die es entfachte – ach, wie schwer wird es sein, sie zu verstehen, da die Quelle der Begehrlichkeit versiegt.» Erinnert mich doch stark an mein geradezu widerwilliges Beobachten jung-verliebter Paare, gleichsam mit einem «Ach Gott’chen, was ist denn daran so schön» oder einem «Muß das sein», wenn sich 2 Menschen küssen; Gide: «… man wundert sich, wenn man sieht, wie sich Jüngere von ihr (der Begehrlichkeit) quälen lassen.» Wahr. Dem widerspricht der Eintrag kurz davor (wie ich mir auch, in vivo , widerspreche): «Ist meine Begierde tot, dann ist es auch mein ganzes Ich.»
Gut und treffsicher die giftigen (neidischen?) Beobachtungen zu/über Cocteau, überraschend die über Proust, offenbar von der sehr offensichtlich vor sich hergetragenen Homosexualität, wie ein Bekenntnis; der Schwanz als Hostie. Auch verblüffend (für mich Ungebildeten), daß der berühmte Satz von Wilde «Ich habe mein Genie in mein Leben und mein Talent in mein Werk investiert» von Wilde zu Gide MÜNDLICH geäußert wurde.
Verblüfft bin ich auch über die «Bravheit» der doch seinerzeit anscheinend (oder scheinbar?) sensationellen und anstößigen Eintragungen, alles sehr verbrämt und diskret, mal über «M», wohl seinen jahrelangen Lover, mal «Theoretisches» über Homosexualität.
Verhaeren zu Maeterlinck: «Übrigens, Ihnen kann ich das ja gestehen, im Grunde interessiert mich nur noch das, was ich selber schreibe.» Maeterlinck zu Verhaeren: «Genau wie mich, übrigens interessiert mich auch das, was ich selber schreibe, nicht mehr allzusehr.»
Wunderlich unterhält sich mit Raddatz …
10. März
Ludwig XV., alt und kränklich, sagt zu seinem Leibarzt, er habe nun beschlossen, «einspännig zu fahren». Der Leibarzt: «Abschirren, Majestät, abschirren!!» Marbach: ein Graus und ein Gräuel. Widerlich, mich anekelnd die falsch-frömmelnde, flüsternde Atmosphäre in diesem Riesen-Bücher-Sarg, eine Mischung aus TURNBULL & ASSER (wo die Hemdenschneider wenigstens eine Sherry-Fahne haben) und Marlies Möller, das Ganze etwas Beflissen-Huschendes – – – – – aber eben nicht der große RESPEKT vor Kunst. Hat auch etwas Onanistisches, Selbstbezogenes (eben NICHT das Erotische, das ja Wesen der Kunst), wie alle diese Grauen, Pickligen irgendeinen «Schatz» befingern, dessen INHALT sie oft nicht kennen, und wenn, dann nicht einordnen können. Hauptsache: HABEN, HABEN, HABEN, wir ‹haben› den Nachlaß von X, wir ‹haben› die Bibliothek – nebbich – von
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