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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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egal, ob ich da einstige ‹Verdienste› habe, stoßen nicht etwa, was noch ginge, auf Granit, sondern auf Höflichkeitswatte: Greiner, dem ich zum Stichwort DEUTSCHE LEITKULTUR angesichts der Tatsache, daß die beliebten Kulturleitbilder keine Deutschen sind/waren, Kafka, Mozart, Karl Kraus, Robert Musil usw., einen Aufsatz «Der politische Rilke» vorschlug, weil es ganz unglaublich ‹radikale›, gegen den deutschen Nationalismus gerichtete Briefe von ihm gibt: «Das interessiert niemanden.» Greiner, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß Rolf Hochhuth – AUCH nicht ganz ohne Verdienste um die ZEIT; Stichwort Filbinger – am 1. 4. seinen 70. begeht: «Darauf hätte ich nicht geachtet – bitte schreiben Sie 58 Zeilen.» Die ebenso große Kunstwartin, als ich mich ‹bewarb›, etwas über die wahrlich großartige, großartig inscenierte Ausstellung der russischen Avantgarde im Hornborstel-Museum zu schreiben – ein RIESEN-Thema, dieser phantastische Aufbruch der Formen und jeglichen überkommenen Kanons, und dann bei Stalin/Shdanow gelandet, von denen unterdrückt und geknechtet, atemberaubend die Entwürfe der Lissitzky oder Tatlin z. B. – – – – die Kunstwartin: «Bitte 40 Zeilen.» (Abgelehnt.) Der große Feuilletonchef, immerhin auf meinem Stuhl sitzend, was noch nichts heißt, doch ICH bin mit meinen ‹Vorfahren› anders umgegangen, und wenn ich Leo nach Salzburg schickte, damit er dort im GOLDENEN HIRSCH prunken und protzen und winen und dinen kann, der Feuilletonchef will mir 3 – DREI – Zeilen aus dem VOLK & WELT-Nachruf streichen – – – – wozu er meine Telefonnummer zu wählen weiß; was er NICHT WEISS, UM ETWA EINEN, IRGENDEINEN ARTIKEL BEI MIR ZU BESTELLEN, UND SEI ES Z. B. ZU DER GROTESK-DEBATTE «Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein», zu der ich einen Sturm-der-Entrüstung-Beitrag unter der Überschrift «Ich bin NICHT stolz, Deutscher zu sein» beigesteuert hätte: stolz auf 6 Millionen ermordete Juden? Stolz auf Überfälle auf fast alle europäischen Länder (und die Toten dort)? Soll ich stolz darauf sein, Brillenträger zu sein? Genug, ich will hier nicht die ungeschriebenen Artikel, die keiner will und um die mich keiner bittet, ins Tagebuch klieren. Aber notieren will ich, daß meine sprichwörtlich überschnellen Synapsen rasen wie eingesperrte Tiere, daß ich Themen, Interventionen, Streitgespräche am laufenden Band produziere respektive mir ausdenke: um die mich keiner bittet. Mein Hirn rast wie die sprichwörtliche Trommel, nur tritt sie nicht mal ne weiße Maus. Es ist (wie bei einem aufgenommenen Kredit die Zinsen) zu ‹teures Geld›, dieses letzte Jahresgehalt dort, das ich dem Herrn Besitzer partout nicht schenken wollte, das mich jetzt aber ‹Gemüts-Zinsen› kostet: eine Mischung aus der Depression des ‹Abgemeldeten› und der Wut des Verachteten, dem man allenfalls ein altes halbes Brötchen hinhält, gereicht durch die Dienstbotentür. Es wäre weniger schlimm, fiele mir nix mehr ein oder wäre meine Formulierungsfähigkeit impotent. Ist aber beides nicht der Fall. So träume ich mir regelmäßig ‹druckreife› Dialoge, Interviews, Artikelfolgen zurecht – – – – – und erwache gerädert. Eine Druckmaschine, bei der weißes Papier herauskommt. Schmählich.
    1. April
    That was the week that was: Montag/Dienstag der Marbach-Archivar hier, der gründlich-neugierig mir (kein NUR angenehmes Gefühl) ‹in die Wäsche sah›; d. h. Briefe, Dokumente, Fotos, Widmungsexemplare usw. durchsah, was widerstrebende Emotionen bei mir auslöste. Zum einen: ‹Wieso kommt dieser fremde Mensch dazu› (ungerecht, denn ICH habe ja den fremden Menschen hergebeten). Zum zweiten (schon beim Vorbereiten des Materials) das Gefühl, ‹mein Gott, welche Fülle›, verglichen z. B. mit dem ach-so-kostbaren Benn-Archiv, das ich ja nun soeben einsah und in dem NICHTS Wertvolles ist, kein einziges Foto etwa Gottfried Benn mit Zeitgenossen, kaum wichtige Korrespondenz usw. (was NICHT heißt, ich vergliche mich mit Benn, ich weiß schon, ‹in welcher Liga ich spiele›). Allein die ca. 100 oder mehr Widmungsexemplare von doch fast SÄMTLICHEN interessanten Zeitgenossen, ob nun Grass oder Arthur Miller, Genet oder Amado, Aragon oder Toni Morrison: Wer hat das? (damit verglichen doch auch die so groß-herausposaunte ‹Stiftung Hans Mayer› mickrig!!!). Zum dritten der Widerwille gegen den Autographen-Fetischismus dieser Archivare, die 2 Zeilen HANDSCHRIFTLICH von

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