Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
SICH SELBST MIT DEM GEISTIGEN LOHN EINER HOFFNUNG. IN HOFFNUNGSLOSIGKEIT IST ER DEN STERNEN UND DEM FUSSE DES REGENBOGENS AM NÄCHSTEN:
    DAS war doch mal auch mein Lebensprinzip? Ist die abnehmende Kraft des Alters auch eine abnehmende moralische Kraft?
    29. Oktober
    Lese Brodsky, mit großer Freude und großer Zustimmung. Seien es die Gedichte, seien es die Essays: weil ich, übermorgen geht’s ab, ihn kommende Woche in New York interviewen will (und die alte Dame Piscator besuchen). Dabei die übliche Vorangst – werde ich mich in New York allein und bedroht/bedrückt fühlen, wird es eventuell zu dem Interview garnicht kommen (und wie stehe ich dann als «Spesenschneider» im Hause ZEIT da) usw.
    Heute außerdem Jochen Munds Todestag. Weckt in mir nichts, ein kleines wehes Wehen, nicht mehr, nicht das große Ziehen. Wie kann das sein?
    Hotel Westbury, New York, den 6. November
    His Majesty Brodsky sagt mir um 10 Uhr am Telefon, ich möchte statt um 12 schon um 11 bei ihm sein.
    Vor dem Haus im Village erster Eindruck: typisch für den russischen Emigranten – es ist das schönste, gepflegteste Haus in der Morton Street. Falsch. In Wahrheit haust er da in einem verkommenen, dreckigen Loch, wo man zwischen Asche, Katzen, Papieren und Artikeln (mit Brodsky-Foto) kaum sitzen kann. Das Telefon klingelt unentwegt (auch während des Interviews), angeboten wird mir nichts, nicht mal ein Glas Wasser, ich bin deutlich die lästige Zeitungshyäne, dessen Fragen er nicht mal braucht, um seine Lego-Baukasten-fertigen Antworten abzuspulen. Neben ihm ein Terminplan wie ein Außenminister zwischen Lesungen, Signierstunden und White-House-Dinner (Black-tie!), ein Achmatowa-«Festival». Der ganze Mann ein schlimmer Typ. «Petry Incorporated».
    Bin es leid, solchen eingebildeten Leuten nachzulaufen.
    5. Dezember
    Heute vor 30 Jahren bin ich aus Ost-Berlin weg.
    Der Tag lief dann bizarr aus, fast so, als solle mir bedeutet werden, WARUM ich im Westen bis respektive WO ich da gelandet bin.
    Hans Werner Richter bedankt sich für meine große Geburtstagseloge in der ZEIT mit keiner Silbe und sorgt stattdessen dafür, daß ich NICHT zu seinem Gala-Essen beim Bundespräsidenten eingeladen werde (was mir als Essen und Weizsäcker-Silberzungengequackel gleichgültig respektive sogar lieb, was aber als Geste mir gegenüber unglaublich ist; sie heißt, übersetzt: Zu DIESEM Kreise gehörst du nun wahrlich nicht).
    16. Dezember
    Die erste positive Kritik der amerikanischen KUHAUGE ausgabe.
    19. Dezember
    Sich durchbeißen. Ich beiße mich durch. Ich habe mich durchgebissen – all diese Sprichwörter sind bei mir Realität!
    Ich beiße nachts mit solcher Gewalt meine Zähne zusammen, daß ich buchstäblich mein eigenes – sehr gutes – Gebiß durchbeiße!
    Kampen, den 30. Dezember
    Eine fahl-pampelmusenfarbene (statt orangene) Sonne versinkt im Nebeldunst, das ist eine gute Stunde und Stimmung (nach langem, schön-melancholischem Wattspaziergang und Caviar-Kauf für morgen abend), Jahresbilanz zu ziehen. Ein Jahr vergeht ja ohnehin immer schneller, je älter man wird.
    Dieses war von «außen betrachtet» eigentlich gut: Bucherfolg in Paris, das Fortgehen der rororo-«Gesamtausgabe» FJR, deren nächste drei (!!!) Bände, alle meine Essays, schon aus dem Hause respektive im Verlag sind, der Vertrag für den neuen Roman, die herrliche Wohnung hier, die im Moment besonders gemütlich-weihnachtlich ist mit einem fast 2 m hohen «Baum» von weißen Weihnachtssternen, einer zarten weißen Orchidee auf meinem Schreibtisch, von dem ich auf die Uwe-Düne blicke, und prunkenden weißen Amaryllis: Alles ließe sich sehr positiv beschreiben.
    ABER. Aber irgendeine Grundmusik stimmt bei mir nicht. Gelegentlich trübt (oder schärft??) das gar meinen ästhetisch-politischen Blick – etwa, wenn ich die Platte von Thomas Mann respektive seine Ansprachen an «deutsche Hörer» unangenehm finde, einen zierlich gehärteten Haß zu hören meine, eine geschmückte, wortverliebte Beleidigkeit spüre, etwas von diesem eisigen Hohn und der tantenhaften Mitleidlosigkeit, die Brecht ihm vorwarf. In der Sache hat er immer recht – aber dieses zynische Doitschland-Pathos mißfällt mir. Oder ich täusche mich und bin nur selber seit 12 Monaten beleidigt. Fast scheint es mir selber, als suchte ich direkt Vorwände, gekränkt sein zu können.

1989
    5. Januar
    Ich will das Tagebuch von jetzt an anders führen: nur stating facts , kein raisonnement , keine

Weitere Kostenlose Bücher