Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Creglingen) ein Riemenschneideraltar und dort ein kleines Dorfgasthaus mit Federweißer und Zwiebelkuchen.
In München mit Enzensberger, der mir in seiner zynischen Fröhlichkeit gut gefällt, obwohl auch er älter wird – seine Pointen von dem «höflichen» Kind, das ihn in Ruhe lasse, wiederholen sich. Aber enorm informiert. ER wäre der Richtige für TRANSATLANTIC, zu dem er mich natürlich SEHR ermuntert. Diese Lobe – «Sie sind der geborene Redakteur» – haben auch immer etwas Schmerzliches. Witzig an seiner Haltung, daß er immer so «belästigt» tut von allerlei «überflüssigen» Akademien, Tagungen und Preisen (und mein Leben ein mondänes nennt, das seine hingegen ein zurückgezogenes) – – – während er gerade von einem Kongreß der John Hopkins University (mit Habermas und Sloterdijk) kommt und erst kürzlich wieder bei der Dame Getty und Lord George Weidenfeld in Portugal und, und. Er ist amüsant, auch aufrichtig?
19. Oktober
Frage mich manchmal, wenn ich morgens mit dem Luxusauto aus der Garage rausche, und da stehen Müllmänner oder Straßenarbeiter oder türkische Laubkehrer: Was denken die wohl? Welche (unerfüllten) Träume und Sehnsüchte sausen durch ihr Gehirn, wenn sie so was sehen? Oder rauscht vielleicht auch garnichts, das Leben ist eben so, es gibt halt oben und unten, und daß sie zu «unten» gehören, ist ihnen selbstverständlich?
Dabei gibt es eine eigenartige «Klassen-Solidarität», ganz verquer: So, wie sich Porschefahrer untereinander grüßen und Jaguarfahrer wiederum ganz evident sich (die feine englische Art?) NICHT grüßen, wiewohl durchaus wahrnehmen an der roten Ampel – so gehen Müll-Leute, die gerade die Straße versperren, und die Fahrer eines Sattelschleppers oder Baukrans ANDERS miteinander um, so à la: «Laß man, Willem.» Sie helfen sich auch (etwa beim Wenden) – sie würden einem Jaguarfahrer NICHT helfen.
Neulich schon im wunderschönen Schloßpark in Stuttgart an einem neblig-dunstigen, spätherbstlich-sonnigen Nachmittag und heute mittag ganz zufällig an der Alster wieder dieselbe Beobachtung; wie rasend Vögel aller Rassen durcheinander (Enten, Schwäne, Möwen etc.) herbeigerauscht kommen, füttert sie jemand. Sie peitschen förmlich durchs Wasser, sie hacken aufeinander ein, sie erjagen vollkommen rücksichtslos-gierig jeden Brocken: wie die Menschen. Eigentlich sahen sie aus, wie übermorgen die Premierenbesucher aussehen werden, die letztlich nichts anderes wollen, als dem jeweiligen anderen die jeweils andere Beute abzujagen und mit einem fetten eigenen Brocken (und sei es einem der Eitelkeit) davonzuhasten.
Gestern abend allein im Kino, später allein in einer der schönen Passagen essen, wie ich auch das ganze Wochenende, inklusive den Montag noch, vollkommen alleine verbracht habe: Ich lerne alt werden und Alleinsein mit der Energie, mit der andere eine neue Sprache erlernen. Noch ist’s für mich Chinesisch – kann weder behaglich am Kamin sitzen (ich sitze da zwar, aber nicht BEHAGLICH) noch den Film genießen, noch «nur» lesen. Wobei der Mastroianni-Film «Schwarze Augen» – nach Tschechow!, was für ein Meister ist das! – mich sehr berührt hat: angeblich eine Komödie, in Wahrheit eine tief verzweifelte Tragödie in abgründiger Menschenskepsis, nach der Melodie: Liebe ist nur Lüge, das ganze Leben ist nur eine Lüge. Brillant (auch so scharfkantig wie ein Brillant).
23. Oktober
Gestern abend in einem sehr berührenden Film über Südafrika (nach einer wahren Begebenheit, eine tapfere Journalistin, die «in Wirklichkeit» tatsächlich durch eine Briefbombe getötet wurde). Und danach noch im TV das uralte Gespräch Gaus/Dutschke: war ziemlich verwirrt: diese neureiche Glitzerwelt der Hamburger Innenstadt, die nicht genug prunken und protzen kann, und der generelle «Genuß-jetzt»-Lebensstil der 80er Jahre – und wie sieht es anderswo auf der Welt aus – – – – wie sah es auch hier mal anders aus, wie anders und ernst war’s zumindest mal gemeint (à la Dutschke). In beiden «Filmen» fielen Sätze, die mich sehr trafen. Wie das Motto, das im Programmheft des vorangegangnen Abends, Premiere des O’Neill-Stücks «Fast ein Poet», stand: DER MENSCH, DER NUR DAS ERREICHBARE ERSTREBT, SOLLTE DAZU VERDAMMT SEIN, ES ZU BEKOMMEN UND ZU BEHALTEN. NUR DURCH DAS UNERREICHBARE GEWINNT DER MENSCH EINE HOFFNUNG, DIE ES WERT IST, DASS MAN FÜR SIE LEBT UND STIRBT. UND NUR DURCH DAS UNERREICHBARE GEWINNT DER MENSCH
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