Taken
stelle ich fest.
Er wirft mir ein breites Grinsen zu. »Schuldig im Sinne der Anklage.«
»Wie sind Sie aus dem Gefängnis geflohen?«
»Bree hatte spezielle Befehle von Ryder. Sie hat mir einen Besuch abgestattet, während die Musik von Mozart lief, und mich befreit.«
Ich sollte froh darüber sein. Dieser Plan hat verhindert, dass ich Harvey erschießen musste. Er hat dazu geführt, dass ich vor dem Feuer gerettet wurde, aber trotzdem bin ich zornig. Außer mir vor Wut.
»Sie hat mir das verschwiegen. Diese verlogene, hinterhältige, sture … Und sie hat auf mich geschossen.«
»Ach, hör schon auf zu jammern«, sagt Bo. »Sie hat mit einer Gummikugel auf dich geschossen, und das war nötig. Die anderen, die Ryder gerufen hat, kämpfen in diesem Moment und halten den Orden beschäftigt, damit ihr entkommen könnt. Das Ganze dient zur Tarnung, kapierst du das nicht? Ein Kampf bricht aus, der Platz geht in Flammen auf, und in dem ganzen Durcheinander könnt ihr fliehen.«
Ich sehe auf meinen Bauch hinunter, auf die schmerzende Stelle, auf die ich die Hand gepresst hatte. Sie ist blutig, aber keineswegs so sehr, wie ich erwarte. Unter meiner verschwitzten Handfläche befindet sich ein hässlicher Striemen, rot und angeschwollen, der bereits blau zu werden beginnt. Schmerzhaft, aber nicht tödlich. Wenn überhaupt, sollte ich mir wegen der Verbrennung an meinem linken Arm Sorgen machen. Wo ich das Hemd ausgezogen habe, bilden sich Blasen.
»Nichts ist überzeugender als ein echter Schock, und du hättest nicht genauso gehandelt, wenn du den wirklichen Plan gekannt hättest«, fährt Bo fort. »Wir hatten nur einen Versuch, und Ryder fand, dass wir so die besten Chancen hatten, euch alle drei lebend herauszuholen.«
»Harvey!«, rufe ich aus und sehe zum Platz zurück. »Wo ist er?«
»Ich habe noch gesehen, dass er ins Kreuzfeuer geraten ist. Und dann hat ihn jemand von der Bühne gezerrt. Man hat mir befohlen, wenn möglich euch beide zu holen, aber ich glaube, ihn haben wir verloren. Und wenn ihr hier herauskommen wollt, Bree und du, müssen wir uns in Bewegung setzen. Sofort.«
Und in diesem Moment, in dem von ihr gar nicht die Rede ist, geht mir auf, dass ich nicht ohne sie gehen kann.
»Wir müssen zurück und noch jemanden holen«, sage ich.
»Ja, Bree«, pflichtet Bo mir bei. »Sie wartet in Union Central auf uns. Dort nehmen wir ein Auto.«
»Bree, natürlich. Aber auch Emma. Ich muss Emma holen.«
Er grinst schief. »Emma. Sie hat von dir gesprochen.«
Verwirrt halte ich inne. »Sie kennen sie?«
»Wir waren ein paar Tage lang Zellengenossen, bevor der Orden festgestellt hat, dass sie mit einem Skalpell umgehen kann.«
»Und sie hat von mir geredet?«
»Konnte gar nicht damit aufhören. Also musste ich ihr richtig schlimme Geschichten erzählen, damit sie ruhig war. Über das Laicos-Projekt, Claysoot und Franks Raub.«
Also weiß sie Bescheid. Emma weiß alles. Ich sehe vor mir, wie sie jetzt mit der Last dieses Wissens irgendwo in Union Central herumläuft. Wissen, über das sie mit niemandem sprechen kann. Ihr einziger Beweis ist das Wort eines Verrückten. Wenn sie reden würde, würde man sie für genauso übergeschnappt wie ihn halten. Emma sitzt in keiner Zelle mehr, aber sie ist trotzdem eingesperrt. Obwohl ich noch nicht bereit bin, ihr zu verzeihen, liebe ich sie so sehr, dass ich sie nicht in diesem Zustand zurücklassen kann.
»Wir müssen sie holen. Nachdem wir uns mit Bree getroffen haben.«
Bo trommelt mit den Fingern hektisch auf die Wand. »Versuchen können wir es.«
Das ist mir in diesem Moment genug.
Rasch rapple ich mich auf die Füße, reiße ein unbeschädigtes Stück Stoff aus dem Hemd, das ich ausgezogen habe, und wickle es um die Verbrennung an meinem Arm. Ich werfe mir die Tasche mit dem Impfstoff über den Rücken, Bo reicht mir mein Gewehr, und dann laufen wir die menschenleere Gasse entlang.
Erneut herrscht Aufruhr in Union Central. Der Alarm treibt die Menschen an. Arbeiter, die seit dem letzten Roten Alarm ihre Schutzräume verlassen hatten, rennen zurück in die Bunker. Ordensmitglieder laufen umher, um Gruppen zusammenzustellen, die in die Stadt fahren. Es fällt Bo und mir nicht schwer, unter ihnen nicht aufzufallen. Die Menschen sind zu panisch, um anderen richtig ins Gesicht zu sehen.
Wir treffen Bree in der Nähe des Speisesaals. Bei ihrem Anblick schießen mir eine Million Gedanken durch den Kopf: Erleichterung, Hass, das Gefühl, verraten worden
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