Tal der Tausend Nebel
schwanger zu werden, aber das Brüderchen, von Elisa sehnsüchtig erwartet, kam nicht. Um schließlich einen Erben für das weitverzweigte Familienunternehmen zu haben, wurde Elisa mit zwölf Jahren in den Dokumenten als Alleinerbin eingesetzt. Elisa erinnerte sich an das ernste Gesicht des Vaters. Er hatte mit ihr von Verantwortung und Familienehre gesprochen, bevor er das erste Mal in die Südsee fuhr, um die Ländereien auf Kauai zu kaufen. Damals war seine Reederei noch ein blühendes Unternehmen. Erst drei Jahre später verursachte ein schweres Schiffsunglück katastrophale Verluste.
Die Zuckerrohrplantage der Gebrüder Vogel würde von nun an die einzige Heimat von Elisa und ihrer Mutter sein. So wurde es entschieden, nachdem der Vater vor zwei Jahren unerwartet gestorben war. Das Haus im Hamburg, in dem Elisa das Licht der Welt erblickt hatte, musste wenige Wochen nach dem Tod verkauft werden. Ihre Familie war bankrott. In weiser Voraussicht hatte Elisas Vater jedoch kontinuierlich einen Teil seines Vermögens in ihre Besitzungen in der Südsee gesteckt. Auf den hawaiischen Inseln würde für den weltweiten Handel immer mehr Zucker angebaut werden. Der Markt wurde auf Jahre hinaus als stabil eingeschätzt, und von Elisas Onkel wurde die Gebrüder Vogel-Plantage auf Kauai seit nunmehr acht Jahren erfolgreich geführt. Es war ein sicheres Geschäft, denn auch von den wachsenden Apfelhainen wurde für die Zukunft solider Gewinn erwartet. Deshalb kam der von Paul vorgeschlagene Verkauf ihrer Plantagenanteile für Elisas Mutter nicht infrage. Clementia Vogel wollte keine Abfindung, sondern eine Chance für ihr einziges Kind. Ein Leben in Wohlstand und Glück sollte es sein. In Hamburg waren sie gesellschaftlich zu stark abgesunken. Der Tod ihres Mannes sowie die bankrotte Reederei hatten eine wirklich angemessene Partie für Elisa so gut wie unmöglich gemacht.
Während ihre Mutter sich das Korsett anzog, blieb Elisa noch einen Moment lang auf ihrer Koje sitzen. Sanft strich sie über das Foto in ihrer Hand, auf dem ihre Familie vor Glück strahlte. Ihr Vater hatte ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Sie dachte an seine warmen, starken Hände, die sie einst auf die Schaukel gehoben hatten. Unverwundbar war er ihr vorgekommen. Nie hatte sie auch nur im Traum für möglich gehalten, dass sie ihn so früh verlieren würde. Aber in einer Winternacht hatte er zu lange im eisigen Hafenkontor gearbeitet, um ihr Unternehmen aus seiner verzweifelten Lage zu befreien oder zumindest zu retten, was noch zu retten war. Dabei hatte er sich erkältet. In den folgenden Wochen hatte er immer stärker gehustet und kaum gegessen. Wegen der geschäftlichen Krise konnte er sich nicht schonen. Im Frühling folgte eine schwere Lungenentzündung. Seine Kräfte schwanden innerhalb weniger Wochen. Er war schließlich so krank, dass ihre Mutter die Pflege nicht mehr schaffte. Eine Krankenschwester kam, um nachts in seinem Zimmer zu wachen.
An einem klaren Aprilmorgen im Jahr 1851 hatte morgens das Rotkehlchen vor Elisas Fenster gesungen. Die Fenster im Zimmer ihres Vaters wurden weit geöffnet. Er wollte es so, damit er den Gesang ihres Lieblingsvogels besser hören konnte. Das Rotkehlchen strengte sich an. Es sang sein allerschönstes Lied. Als Elisa zu ihrem Vater gerufen wurde, saß er aufrecht und still in seinem Lehnstuhl. Er war friedlich für immer eingeschlafen.
»Gott hat deinen Vater im Himmel gebraucht«, lautete die Erklärung ihrer ebenfalls zu Tode erschöpften Mutter. Damals war Elisa sechzehn. Jetzt hatte sie vor wenigen Tagen ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert und war zu einer Riesin geworden. Ihrem Vater hätte gefallen, wie groß und stark ihr Körper war. Davon war Elisa überzeugt. Immerhin hatte er ihr auch das Reiten beigebracht und das Segeln auf der Elbe. Ihr Vater mochte sportliche Frauen. Bei ihm hätte Elisa sicherlich keine engen Seidenkleider tragen müssen.
Als Elisa seufzend aufstand, um ihrer Mutter bei ihrer Frisur zu helfen, musste sie sich in der Kabine bücken. Einige der Matrosen an Bord überragte sie bereits, aber neben ihrer zierlichen Mutter kam sie sich wie ein wahres Ungetüm vor. Inständig hoffte sie, dass dieser Johannes van Ween kein Zwerg sein würde. Wenn es nach Elisa ging, würde sie lieber einen Mann heiraten, der weniger vermögend war, sie dafür aber als ebenbürtige Partnerin ansehen würde. Mit ihren Sprachkenntnissen und ihrer Klugheit hätte sie große Lust, auf Kauai
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