Tal der Tausend Nebel
Vorhang wieder zu. Die Tanzenden dahinter drehten sich weiter im Kreis.
Sprachlos sah Elisa auf den Schatz in ihrer Hand. Damit würden sie ihre Familie eine ganze Weile über Wasser halten können. Zärtlich legte Kelii seine Hand über die Rundung von Elisas Schwangerschaftsbauch, und Elisa wischte sich eine verräterische Träne von der Wange. In wenigen Stunden würde es Mitternacht sein. Sie verließen mit Eli unauffällig den Saal der Tanzenden, um in der Sicherheit der Berge mit Ihresgleichen den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu feiern.
22. Kapitel
Der alte Garten, Jahreswende 2011
Es war schon fast dunkel, als Maja ihre Augen wieder aufschlug. Noch konnte man gut sehen, aber die Dämmerung kam schnell über die Berge. Schon lagen einige Täler ganz im Schatten. Sie wollte nicht von der Dunkelheit überrascht werden und stand von der kleinen Bank auf, um den Pfad zurückzugehen, der zu ihrem Wagen führte. Da hörte sie seine Stimme.
»Hast du es gefunden?«
Keanu stand nicht weit von ihr. Er musste dort schon eine ganze Weile gewartet haben, aber Maja hatte ihn nicht kommen hören. Sie nahm an, dass er von dem Grundstück sprach. Ein wenig wunderte sie sich über seine Frage, ob sie es gefunden hatte. Immerhin standen sie beide darauf. Aber da deutete Keanu schon auf den verwitterten Stamm des alten Apfelbaums hinter dem Schuppen.
»Unseres habe ich an dem Tag geschnitzt, als ich aus Nizza zurückkam.«
Im Licht des letzten Sonnenstrahls sah Maja die beiden Herzen, die in den alten Stamm geschnitzt waren. In dem einen Herz, das von Wind, Regen und Sonne verwittert und ausgewaschen war, standen die Namen Elisa und Kelii. In dem neuen Herz standen die Namen Maja und Keanu.
Sie wagte fast nicht zu atmen, als er zu ihr trat. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah ihr in die Augen. Seine Stimme war rau vor Sehnsucht.
»Es gibt keine Zufälle, Maja. Du bist hier, weil ich dich gerufen habe, vielleicht schon vor unendlich langer Zeit … Bitte sage mir, dass ich mit meinem Gefühl nicht allein bin.«
Maja schluckte. Ihr Herz flatterte vor Freude in ihrem Brustkorb wie ein gefangener Vogel, der die offene Käfigtür sieht. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Doch noch gab es ein entscheidendes Hindernis.
»Was ist mit deiner Hochzeit mit Leilani? In zwei Tagen ist der Hibuskus-Ball …«
Er mied ihren Blick und sah traurig aufs Meer. Seine Stimme klang leise und zögerlich.
»Und dein Freund, der erfolgreiche Arzt Stefan? Bist du noch mit ihm zusammen? Konntest du ihn überhaupt noch küssen oder ihm sagen, wie sehr du ihn liebst, nachdem wir beide …?«
Maja schüttelte den Kopf und er lächelte vorsichtig.
»Ich habe es sofort gewusst, noch bevor mein Flieger in Nizza abhob. Du bist es. Du bist meine Frau.«
Sanft legte er seine Hand auf ihren Bauch.
»Und unser Kind habe ich auch gespürt … und mich jeden Tag darüber gefreut, dass du es bekommen willst … und es bei dir leben darf.«
Maja sah ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte es also die ganze Zeit gewusst. Über den halben Erdball hatte er gespürt, dass sie schwanger war. Worauf also wartete sie noch?
Keanu deutete mit einem wehmütigen Lächeln hinaus aufs Meer. Eine Welle, größer als die anderen, schob sich in Richtung Strand. Ein einsamer Surfer ließ sich von ihr im letzten Licht an den Strand tragen.
»Das Einzige, was ich nie könnte, ist von hier fortzugehen. Vielleicht habe ich deshalb gezögert. Wenn wir zusammen leben wollen, dann würde ich alles tun, damit du dich hier wohlfühlst. Du könntest unterrichten, dafür würde ich sorgen. Oder aber du könntest Elisas Museum in Lihue gestalten … Aber unser Leben wäre für immer hier, an diesem Ort. Ich könnte meine Heimat auf Dauer nicht verlassen. Großvater Hai braucht mich hier. Unser Klan … Ich bin … Ich meine, willst du … würdest du für immer bei mir auf Kauai bleiben? «
Er sah sie ein wenig schief an, weil er sich nicht sicher war, wie sie seine Frage aufnehmen würde. Letztendlich war es das, was sie trennte und sie möglicherweise auch für immer trennen würde. Keanu und Hawaii waren eins. Seine Liebe zu seiner Heimat war stärker als alles andere.
Maja zögerte keinen Moment. In ihr war mit einem Mal eine Stärke, die keinerlei Zweifel zuließ. Das war es, worauf sie immer gewartet hatte, diese eindeutige Gewissheit. Dennoch hoffte sie, dass ihre Stimme sie jetzt nicht im Stich lassen würde, denn ihr Herz und das ihres Kindes
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