Tal der Tausend Nebel
weitgehend nach eigenen Gesetzen lebten, sodass die Kleiderordnung den Frauen zumindest keine Korsetts aufzwang.
Der stolze Dreimaster Bremen III hatte Elisa und ihre Mutter auf vielerlei Umwegen vom Hamburger Hafen bis nach Kauai gebracht. Sie waren auf der Überfahrt an so vielen Häfen von Bord gegangen, dass Elisa das Gefühl hatte, den halben Globus zu kennen. Aber hier, an ihrem Zielort Kauai, würden sie den Hafen nicht anlaufen können. Es herrschte Ausnahmezustand. Ihr Schiff würde aus Sicherheitsgründen über Nacht an der Westküste der Insel in einer geschützten Bucht ankern müssen.
Seit gut einem halben Jahr befanden sich die hawaiischen Inseln in Aufruhr. Die von ihrem Volk über alles geliebte Königin Lili’uokalani sollte abgesetzt werden, um Platz für eine neue Regierung zu schaffen, die den weißen Plantagenbesitzern mehr Mitspracherecht ermöglichte. Als Lili’uokalani sich widersetzt hatte, war ihr von den Amerikanern Hausarrest auferlegt worden. Amerikanische und europäische Söldner hatten ihren Palast umstellt. Man wollte die Königin durch verschiedene Repressalien dazu bringen, freiwillig abzudanken, aber dieser Plan war fehlgeschlagen. Derzeit lebte die Herrscherin Hawaiis jedoch als Gefangene in ihrem Palast, und das gefiel ihren Untertanen nicht. Überall auf den Inseln hatten die Königstreuen zu den Waffen gegriffen. Hanalei Bay war auf Kauai eine der wenigen sicheren Buchten für Handelsschiffe. Aber selbst hier war es angeblich bereits zu Übergriffen gegen weiße Einwanderer gekommen.
Elisa interessierte sich mit ihren neunzehn Jahren bereits brennend für Politik. Ihr Vater und seine Freunde in Hamburg hatten ihr viel beigebracht. Da sie ein Einzelkind war, hatte der Vater Elisa immer mehr wie einen Jungen als ein Mädchen behandelt. Alle ihre Fragen über die Geschichte Europas hatte er geduldig beantwortet. Er wusste, dass Elisas Mädchenlyzeum in Hamburg den jungen Frauen in diesen Fächern nur unzureichend Wissen vermittelte, und füllte all ihre Wissenslücken mit Vergnügen.
Elisa war eine gelehrige Schülerin, sodass ihr Vater ihr zusätzlich einen Privatlehrer zur Seite stellte, wenn er auf seinen ausgiebigen beruflichen Reisen unterwegs war. Deswegen hatte Elisa, vor allem was die Kolonien betraf, umfangreiche Kenntnisse und durchaus bisweilen eine kritische eigene Meinung. Unter gleichaltrigen jungen Männern war sie deshalb als Blaustrumpf verschrien, aber das machte Elisa nur wenig aus. Ihr Traum war es, eines Tages die Firma ihres Vaters übernehmen zu können. Deshalb versuchte sie, die Zusammenhänge von Geschichte und Politik zu verstehen, um bei Tisch mitreden zu können, wenn die Geschäftsfreunde ihres Vaters kamen.
Elisa wusste, dass es den Amerikanern und den Europäern auf den hawaiischen Inseln vor allem um die ertragreichen Ernten und die billigen Arbeitskräfte ging. Durch Kaffeeernten waren viele Europäer reich geworden, und seit Kurzem war Zuckerrohr die neueste Mode. Wie Pilze schossen die Plantagen aus dem fruchtbaren Inselboden. Eine Art Goldgräberstimmung lockte mehr und mehr Einwanderer aus Europa und Amerika auf die paradiesischen Inseln in der Südsee.
Doch schnell waren die Reichtümer zum Zankapfel zwischen den Ländern geworden. Die Europäer stritten sich um die ertragreichsten Ländereien, und Deutschland schlug sich wacker auf diesem Spielfeld. Elisas Familie gehörte mittlerweile selbst eine der ertragreichsten Zuckerrohrplantagen auf Kauai. An die zweihundert Hawaiianer arbeiteten für ihren Onkel auf den Feldern, für einen Lohn, der nach europäischem Standard schlicht lächerlich war. Aber angeblich brauchten die Eingeborenen nicht viel zum Leben. So zumindest hatte der Vater es Elisa erklärt, als er noch am Leben war.
Jahrelang war auf Kauai alles gut gegangen, die kleine grüne Insel, wie sie genannt wurde, war im Gegensatz zu Hawaii, Oahu und Maui kein Zentrum des politischen Geschehens. Keiner der Arbeiter hatte je offen rebelliert – bis die Amerikaner ihre Königin eingesperrt hatten. Seitdem herrschte kein Frieden mehr zwischen den europäischen Zuwanderern und der Urbevölkerung. Noch war es nur zu gewalttätigen Vorfällen auf Hawaii und Oahu gekommen, aber die Zahl der Toten war mehr als beunruhigend. Zunehmend machten sich kritische Stimmen auf den anderen Inseln breit. Man sprach von Ausbeutung durch die Haole, wie die ankommenden Einwanderer aus Europa verächtlich genannt wurden. Die Weißen sollten das
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