Tal der Tausend Nebel
nach Schäden und Flecken. Elisas Mutter konnte in solchen Sachen unglaublich pingelig sein.
Elisa sah beunruhigt zu, wie ihre Mutter ihre kleine Phiole öffnete und mehr als zehn Tropfen Medizin auf ihre Zunge gleiten ließ. Sie nahm diese Tropfen regelmäßig seit dem Tod des Vaters. Nervlich bedingtes Zittern sowie gelegentliche Asthmaanfälle quälten sie. Beides versuchte sie mit einem Opiat unter Kontrolle zu bringen, denn ihre Konstitution war schwach. Während sie zusah, wie ihre Mutter versuchte, ihren Atem zu beruhigen, dachte Elisa nach. Ihr gefiel der Gedanke, noch heute einen Fuß auf die Insel zu setzen. In einer Stunde würde es so weit sein. Sobald die Waren für die Plantage und ihr Gepäck in die Kanus umgeladen waren, würden sie von Bord gehen. Mit dem Entschwinden der Bremen III würde auch das letzte Stückchen Heimat ein Teil ihrer Vergangenheit werden. Dann konnte ihr neues Leben beginnen. Sanft legte sie ihrer Mutter die Hand zwischen die Schulterblätter.
»Schaffst du es, Mama?«
Clementia hatte ihre Atemnot durch die Tropfen halbwegs unter Kontrolle gebracht. Sie versuchte, ihrer Tochter ein zuversichtliches Lächeln zu schenken.
»Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Noch sind mir keine Engelsflügel gewachsen.«
Elisa litt darunter, wenn ihre Mutter von Engeln sprach. Immer wieder ließ sie anklingen, wie wenig ihr das Leben auf der Erde nach dem Tod ihres Mannes bedeutete. Das tat weh. Elisa legte vorsichtig ihre Hände auf die ihrer Mutter.
»Du wirst sehen. Alles wird gut, wenn wir erst auf der Plantage sind. Bei Onkel Paul kannst du dich ausruhen. Er hatte bestimmt zu viel zu tun, um selber zu kommen. Nur deswegen hat er Herrn van Ween geschickt.«
Elisas Mutter sah noch nicht einmal auf. Ihre Hände zitterten immer noch, während sie krampfhaft an einem unsichtbaren Fleck auf der Seide rieben.
»Dein Onkel wird es schon richtig machen. Zudem mag Herr van Ween zwar unsympathisch auf uns wirken, er muss aber ein sehr tüchtiger Verwalter sein. Seit fast sechs Jahren arbeitet er jetzt auf der Plantage. Sein ältester Sohn Johannes ist der kluge junge Mann, von dem dein Vater uns erzählt hat. Ihr seid fast im gleichen Alter. Johannes wird die gesamte Buchhaltung auf der Plantage übernehmen und ist angeblich sehr gut mit Zahlen. Aber Johannes wäre leider keine gute Partie für dich. Das hatte ich mit Vater bereits geklärt. Er hat zu wenig Vermögen und zudem brauchst du einen Mann, der älter ist, damit er dir deine Flausen austreiben kann …«
Elisa lächelte flüchtig. Tatsächlich hatte ihr Vater ihr einige Male von dem Wunderknaben Johannes van Ween erzählt. Wenn Elisa Nachlässigkeit bei ihren Rechenaufgaben zeigte, war dieser Johannes immer als leuchtendes Vorbild angeführt worden. Akribie und Zahlenliebe waren herausragende Eigenschaften des Patensohns ihres Vaters. Elisa wusste, dass Johannes als zukünftiger Ehemann für sie höchstens eine Notlösung war. Man hoffte auf mehr Wohlstand bei Elisas Zukünftigem. Auch wäre ein Deutscher besser als ein Holländer. Aber die van Weens waren tüchtig. Bereits jetzt gehörte ihnen eigenes Land auf Kauai. Statt sich auszahlen zu lassen, hatte der Verwalter um eigenes Land gebeten. Dafür musste seine Frau auch auf der Plantage mitarbeiten, weil der Lohn sonst nicht für den Unterhalt der Familie gereicht hätte. Marie van Ween war angeblich eine ausgezeichnete Köchin. Bestimmt würde es den van Weens auch gelingen, für ihren talentierten Ältesten eine gute Partei zu verhandeln, da Johannes zusätzlich zu seinen anderen Qualitäten für einen jungen Mann in seinem Alter auch schon ausgesprochen männlich aussah. Elisa hatte sein Foto gesehen. Als sie das erste Mal Johannes Gesichtszüge sah, hatte ihr Herz spontan einen kleinen Sprung gemacht.
Still legte Clementia als letzte Vorbereitung eine blaue Schleife für Elisas Haar auf das Kleid. Für sich hatte sie ebenfalls ihr vornehmstes Kleid gewählt. Plissiert und hochgeschlossen und aus feinster schwarzer Baumwolle, ihrem Witwenstand angemessen. Elisa beobachtete, wie stark die Hände der Mutter immer noch zitterten, als sie trotz der warmen Temperaturen ihr wollenes Umschlagtuch zu ihrem Kleid legte.
»Ist dir kalt?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig aufgeregt. Der Morgen wäre mir lieber gewesen. Wenn wir ankommen, ist es bereits dunkel. Dazu noch die bevorstehende Geburt … deine arme Tante. So kurz hintereinander vier
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