Tal der Tausend Nebel
Allein die Ausstattung für Elisas Debütantinnenball hätte ihre restlichen Reserven so gut wie aufgezehrt. Um Elisa das Leben zu ermöglichen, das ihr Vater für sie geplant hatte, musste Clementia aus der Not eine Tugend machen. Mutig und stark war ihre Elisa. Deswegen war der Plan, nach Hawaii auszuwandern, die einzig richtige Entscheidung gewesen.
Die Mutter trocknete sich ab. Danach kniff sie sich in beide Wangen, um ihre transparente Blässe zum Erröten zu bringen. Sie würde versuchen, bei der Begrüßung von Pauls Frau einen zuversichtlichen und gesunden Eindruck zu machen. Alles, was nötig ist, würde sie tun, um für Elisa den bestmöglichen Mann zu finden. Aber zusätzlich zu Wohlstand, Geist und Humor würde ihr Schwiegersohn auch noch Körpergröße mitbringen müssen. Ihr Kind war auf dem Meer noch einmal wie Unkraut in die Höhe geschossen. Auch wenn sich verführerische Formen unter Elisas Unterrock abzeichneten, war ihre Tochter für die meisten Männer bereits jetzt ganz einfach zu groß.
Elisa war fertig mit Packen. Ein letztes Mal setzte sie sich im Unterrock auf die kleine Koje, die über viele Monate ihre einzige Rückzugsmöglichkeit gewesen war. Sie nahm das Foto auf dem Nachttisch in die Hand. Das Bild in dem schwarzen Rahmen zeigte im Hintergrund ihr stattliches ehemaliges Zuhause in Hamburg. Ein richtiger Fotograf hatte die Aufnahme gemacht. Im Vordergrund saß die kleine Elisa auf ihrer Schaukel. Sie war flankiert von ihren strahlenden Eltern. An diesem Tag hatte Vater ihr die neue Schaukel am Apfelbaum aufgehängt. Es war ihr zehnter Geburtstag gewesen. Zärtlich strich Elisa über das Foto.
»Erzähl mir von deinem schönsten Tag. Damals als mit uns beiden alles angefangen hat.«
Clementia wusste, was Elisa meinte. Fast jeden Abend hatten sie sich am Anfang ihrer Reise gegenseitig Geschichten von zu Hause erzählt, um das Heimweh zu verdrängen. Eine dieser Geschichte mochte ihre Tochter am allerliebsten. Während sie Elisas Zopf löste, um das Haar noch zu kämmen und aufzustecken, begann Clementia zu erzählen.
»Ein Rotkehlchen hat auf dem Baum vor meinem Schlafzimmer gesungen, während ich viele Stunden auf deine Ankunft wartete. Ich war so ungeduldig. Der Klapperstorch hat an diesem Sonntag lange auf sich warten lassen. Deswegen hat der kleine Vogel mit der roten Kehle über Stunden sein Bestes gegeben. Er wollte uns beide bei Laune halten, denn auf ein Kind zu warten, kann sehr, sehr anstrengend sein …«
Die Frauen warfen sich einen Blick zu, der auf weiblichem Einvernehmen beruhte. Über diese Dinge sprachen Mutter und Tochter erst kurz vor der Hochzeitsnacht. Auch wenn Elisa bereits wusste, dass das Kinderkriegen eine schmerzhafte und vor allem anstrengende Angelegenheit war, wusste sie keine Details. Sie mochte die Geschichte vom Klapperstorch. Ihr reichte schon ihre Mondzeit, wie ihre Mutter das weibliche Übel nannte, das Elisa einmal pro Monat die Nerven raubte, seit sie fünfzehn war. Zum Glück hatte der lästige Fluch aufgehört, seit sie Hamburg per Schiff verlassen hatten. Ein Arzt, den die beunruhigte Mutter auf ihrem Zwischenstopp in New York aufsuchte, verschrieb Elisa pro Tag ein Hühnerei, um einer leichten Anämie entgegenzuwirken. Anatomisch sei alles normal. Das würde sich von alleine wieder einrenken, spätestens, wenn Elisa ausgewachsen sei.
Clementia erzählte weiter, während sie Elisas Haar mit der Bürste glattzog.
»In den Abendstunden, als der Mond bereits hinter dem Apfelbaum aufstieg, war es so weit. Ich hielt mein Sternenkind endlich in den Armen. Dein Vater kam, um dich zu bewundern. Wir wussten sofort, dass du unser schönstes Geschenk auf Gottes Erdboden sein würdest …«
Elisa schluckte. Clementia ließ die Bürste sinken. Gemeinsam saßen Mutter und Tochter ein letztes Mal in der engen Koje. Sie hielten sich umschlungen, so als würden sie einander festhalten müssen. Eine unbekannte Welt lag vor ihnen. Jede hing in ihrer letzten Stunde auf der Bremen III ihren Erinnerungen nach, so als würden sie die Kraft aus ihren Heimatwurzeln brauchen. Elisa dachte an den kleinen tapferen Vogel vor ihrem Fenster. In den Jahren ihrer Kindheit kam das Rotkehlchen jeden Frühling, wenn der Apfelbaum blühte. Immer sang es vor Elisas Fenster. Ihr großer Garten am Elbufer war ein blühendes Paradies gewesen, dicht bewachsen mit Rosen in allen Farben. In der Gartenlaube hatte Clementia ihr endlos Märchen vorgelesen.
Anfangs hoffte sie, erneut
Weitere Kostenlose Bücher