Tal der Tausend Nebel
tat sein Übriges.
Kurze Zeit später hatte Elisa dem Kapitän und der Mannschaft die Hände geschüttelt und sich mit ihrer Mutter für alles bedankt. Ihre Gepäckstücke, von dem Matrosen an Deck gebracht, wurden ein letztes Mal überprüft. Knoten und Schlösser saßen fest, das Verladen konnte losgehen. Elisa spürte, wie ihre Fußsohlen unruhig kribbelten, ihre Füße freuten sich ungemein auf das Gefühl von Erde zwischen den Zehen.
»Die Kanus warten! Es ist Zeit.«
Elisa und ihre Mutter folgten dem Kapitän auf die andere Seite des Schiffes. Elisa sah über die Reling. Da war er, ihr schöner Wilder. Gerade ergriff er ein Tau, das ihm vom Deck zugeworfen wurde. Der holländische Verwalter, Piet van Ween, bellte vom größten der Kanus Anweisungen in unverständlichem Kauderwelsch. Elisa kniff die Augen zusammen. Der Vater von Johannes gefiel ihr immer noch nicht.
Dann war sie mit einem Mal durch etwas abgelenkt. Nicht weit von den Kanus entdeckte Elisa eine Haiflosse. Kurz blitzte sie aus dem Wasser hervor und verschwand wieder. Seit geraumer Zeit hatte Elisa immer wieder Haie gesehen. Angelockt von den Abfällen des Schiffes folgten ihnen die Tiere bisweilen über weite Strecken. Diese Haiflosse aber war sehr viel größer als all die anderen auf der Überfahrt. Ihr Vater hatte ihr von gigantischen Haien erzählt, die in den Riffen um Kauai lebten und fast so groß waren wie ein Wal.
Es war fast dunkel, als Elisa über die Reling stieg und nervös die Strickleiter ergriff. Sie sollte ausgerechnet in das Kanu steigen, das von dem schönen jungen Mann gerudert wurde, doch es versprach eine wackelige Angelegenheit zu werden. Das größere Kanu, in dem der Verwalter saß, war für ihr persönliches Gepäck vorgesehen und ohnehin schwer beladen. In dem zweiten kleinen Kanu würde ihre Mutter an Land gelangen. Der Verwalter hatte es so bestimmt. Überhaupt hatte er das Sagen und machte das bei jedem zweiten Satz überdeutlich. Vor Elisa und ihrer Mutter hatte er zwar zur Begrüßung einen formvollendeten Diener gemacht, aber dann sofort zur Eile gedrängt. Ein überaus unsympathischer Zeitgenosse, wie Elisa nach wie vor fand. Ihren ersten Eindruck sah sie bestätigt und konnte sich plötzlich auch gar nicht mehr so recht vorstellen, dass Johannes van Ween ein netter und kultivierter junger Mann sein würde. Allein die geradezu anzügliche Distanzlosigkeit, mit der der beleibte Mann sie angeredet hatte, und die ungehobelte Art, mit der Piet van Ween unaufhörlich auf die Hawaiianer einschrie, empfand sie als abstoßend. Die Hawaiianer jedoch ertrugen seine Schreierei mit Gleichmut.
Elisa zählte insgesamt sechs. Außer dem jungen Mann, der ungefähr in ihrem Alter sein musste, schätzte sie die anderen als deutlich älter ein. Sie trugen nichts außer einem gewickelten Lendentuch, und ihr glänzendes schwarzes Haar fiel ihnen offen bis über die Schultern. Nur einer von ihnen trug es zurückgebunden, und es war bereits grau. Er war der Älteste und saß hinten in dem Kanu, in das Elisa einsteigen sollte. Sie konnte silbrige Narben erkennen, die in einem martialischen Muster seine sonnengegerbte Haut durchzogen. Dennoch schien der Alte von sanftem Gemüt zu sein. Er sprach in melodiösem Singsang mit dem Jungen und lächelte Elisa dabei hin und wieder schüchtern zu. Sie beobachtete, wie er mit dem Jungen geschickt den Schiffskoffer mit ihren Büchern balancierte. Um das schwere Ding auf dem großen Kanu festzuschnallen, tänzelte der schöne Wilde wie ein Akrobat. Elisa hatte das Gefühl, das auch er mehrmals zu ihr nach oben sah, aber sicher war sie sich nicht.
Plötzlich tauchte die riesige Haiflosse ein zweites Mal neben den Kanus auf. Elisa entfuhr unwillkürlich ein Aufschrei, und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen. Unendlich vorsichtig kletterte sie die Strickleiter weiter nach unten, während der Hai um die Kanus kreiste. Elisa bekam Angst. Was, wenn die Strickleiter reißen würde?
»Du weißt, was passiert, wenn dir schwindlig wird. Einfach nicht nach unten sehen.«
Die Stimme der Mutter an Bord zitterte. Sie wussten beide um das Schwindelgefühl, das Elisa nicht kontrollieren konnte. Wenn es einmal begann, wurde ihr einfach schwarz vor Augen und sie kippte um. Aber Elisa kämpfte mit aller Macht gegen das Gefühl einer beginnenden Ohnmacht an, obwohl ihr bei dem Anblick der großen Haiflosse furchtbar übel wurde. Sie wusste, was passieren würde, wenn sie ins Wasser fiel, denn sie
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