Tal der Tausend Nebel
einen kleinen Funken Licht. Die Stimmen sangen immer noch, in einer ihr fremden Sprache. Aber Elisa verstand auch so, was die Worte ihr sagen wollten. Sie musste vorwärts, immer weiter, in Richtung Licht.
Wie von allein wurde sie in einen Raum aus Licht gezogen. Erst war es um sie herum nur hell, doch dann nahmen die Formen nach und nach Kontur an.
Der Raum, in dem Elisa sich befand, war ihr vertraut. Es war das Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie war in ihrem Haus in Hamburg. Elisas Vater saß, so wie sie ihn in ihrer Kindheit oft erlebt hatte, zufrieden an seinem Schreibtisch. Er war versunken in ein Buch. Als er Elisa kommen sah, legte er die Lektüre lächelnd zur Seite und breitete seine Arme aus. Sie lief zu ihm, wie sie es als Kind oft getan hatte. Doch diesmal war es anders. Elisa hatte ein Anliegen. Sie war ungeduldig. Der Vater lachte.
»Was bringt mir meine kleine Prinzessin heute aus dem Garten? Ist es wieder eine Schnecke?«
Elisa gab ihrem Vater einen Kuss. Dann ließ sie sich von ihm auf den Schoß nehmen und öffnete ihre erdige Hand.
»Schau, was in meinem Beet war…«
Ein kleiner Regenwurm wand sich in ihrer Hand.
Etwa sechs Jahre alt musste sie damals gewesen sein, dachte Elisa, während sie in großer Distanz Hokus Summen hörte und gleichzeitig im Haus ihrer Kindheit war. Bis zu diesem Moment hatte sie sich nie mehr an diesen Regenwurm erinnert. Aber er war einst ein wichtiger Lehrer gewesen. Es war eine eigenartige Sensation, wieder klein zu sein und in Hamburg, dachte sie noch. Dann summte Hoku lauter. Elisa hörte auf zu denken und ließ sich von der Heilerin zurück in ihre Erinnerung führen.
Nachdem ihr Vater einen Bogen Papier auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, sahen sie sich gemeinsam den sich windenden Wurm an. Elisa stupste ihn zart an, sodass er sich noch mehr krümmte. Dann stellte sie ihre Frage.
»Hat der Regenwurm auch einen Lieben Gott?«
Der Vater nickte. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor er anfing zu sprechen.
»Alle Lebewesen kommen aus derselben Quelle. Alle gehen wir eines Tages dorthin zurück. Aber manche Kreaturen wissen nicht so viel von Gott. Sie lesen nicht in der Bibel. Sie singen auch keine Lieder mit ihrer Mutter am Klavier, um Gott zu erfreuen. Aber für Gott sind alle gleich. Wir kommen von seiner Lichtquelle. Der Wurm lebt genauso in Gottes Liebe wie du und ich.«
Als Nächstes zeigte das Mädchen auf das Kreuz von Jesus Christus, das seit der letzten Reise nach Hawaii über dem Arbeitsplatz ihres Vaters hing.
»Der Sohn von Gott … sieht der auch den Wurm?«
Ihr Vater nickte und nahm das Kreuz von der Wand. Er reichte es Elisa, denn er wusste, wie gern sie es hatte. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Elisa das Kreuz nach ihrer Konfirmation als Geschenk von ihm bekommen sollte. Vorher durfte sie es jederzeit in seinem Arbeitszimmer besuchen.
Andächtig sah sich Elisa den geschnitzten Jesus an. Das Kreuz war eine einfache Arbeit aus Kauai. Ihr Vater hatte es in der dortigen Mission mit der Absicht erstanden, seine Frau von den Fortschritten der Missionsschule zu überzeugen. Die Christusfigur sah aus wie ein Hawaiianer.
Elisa mochte die Figur. Aber auch das glatte Koa-Holz faszinierte sie. Solche Bäume gab es bei ihnen nicht. Ihr Vater sprach, während Elisa das Kreuz zärtlich mit ihren Fingern streichelte.
»Wir sind alle Gottes Kreaturen, Elisa. Dennoch hat jeder von uns seine eigene Aufgabe. Ich kümmere mich um Schiffe und baue eine Plantage auf Kauai. Du spielst und lernst schöne Lieder von deiner Mutter. Der Wurm verrichtet in der Erde seine Arbeit, Tag für Tag.«
Ihr Vater lächelte jetzt.
»Für den Wurm ist es vielleicht einfacher, immer gottgefällig zu sein …«
Elisa nickte, aber sie war abgelenkt. Irgendwie hätte sie es gerne gesehen, wenn der Wurm sich für das Kreuz interessiert hätte, das sie ihm hinhielt. Doch das tat er nicht. In sich zusammengekrümmt lag er da, während Elisas Vater weitersprach.
»Für uns Menschen ist es nicht immer leicht, Gottes Willen zu verstehen. Wir müssen unseren Weg zu Gott finden, indem wir das Lesen lernen und die Bibel studieren.«
Stolz legte der Vater ihr seine Hand auf den Kopf. Elisa wusste, wie viel Vergnügen ihm ihre schnellen Fortschritte im Lesen machten. Er nahm sich fast jeden Abend Zeit, um ein wenig mit ihr zu üben. Elisa nickte eifrig.
»Wenn der Wurm so lesen könnte wie ich, würde sich Jesus freuen!«
Ihr Vater lachte gutmütig.
Elisa hatte
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