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Tal der Tausend Nebel

Tal der Tausend Nebel

Titel: Tal der Tausend Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noemi Jordan
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mit meinem Schüler rede …«
    Elisa spürte die gewaltige Kraft sofort, die von Hokus greisen Händen ausging. Im Vergleich zu der mächtigen Heilerin von Oahu schienen Elisa ihre eigenen Fähigkeiten wie die eines Kindes. Hoku war eine Meisterin in vielen Kahuna-Künsten, aber vor allem war sie eine Meisterin der Hellsichtigkeit. Ihr blieb nichts verborgen.
    »Du machst deine Sache gut. Ich bin zufrieden. Aber du darfst nicht nachlassen. Jeden Tag musst du besser werden, hörst du? Jeden Tag!«
    Kelii nickte. Er versuchte, dabei nicht zu lächeln, aber ihn rührte seine alte Lehrerin bisweilen. Jetzt, im hohen Alter, erinnerte sie ihn immer mehr an eine Zauberin aus dem Volk der Menehune, eine Sagengestalt, die alle Kinder kannten.
    Hoku hatte Kelii als kleinen Jungen in die hohe Kunst der Heilerei eingeführt und war mit seinen Fortschritten zufrieden, wie sie noch weiter im Detail ausführte, während sie die paar Schritte mit ihm ging.
    »Du bist jetzt im fünften Winter deiner zweiten Ausbildung?«
    »Hast du inzwischen gelernt, den toten Matrosen zu besiegen?«
    Elisa hörte, wie Kelii mit einem Ja antwortete. Also stimmte es, was er sagte, Hoku las seine Gedanken und teilte seine Träume.
    »Und du liebst diese Wahine von ganzem Herzen?«
    Kelii bejahte auch das, sagte aber auch, dass er noch auf den Segen seiner Mutter warten musste, um Elisa auch heiraten zu dürfen. Und natürlich hätte Hoku in der Sache ein Wörtchen mitzureden.
    Die Alte grunzte zustimmend.
    »Ich werde sie mir ansehen, deine Elisa … meine Träume waren sehr groß. Eine, die von Großvater Hai erwählt wird, ist keine kleine Seele …«
    Kurz darauf war Hoku wieder bei Elisa. Sie begann die Behandlung mit ihren Händen. Anfangs sprach sie dabei mit Elisa in ihrer leisen heiseren Stimme.
    »Nur ich darf entscheiden, welche Fähigkeiten ein Heiler erlangen darf. Kelii zum Beispiel lernt Traumreisen, Pflanzenmedizin und das Sehen mit den Fingern. Er darf aber nicht lehren … Alles was er dir bisher beigebracht hat, ist ohne meine Erlaubnis verboten. Nur wegen deiner Begegnung mit Großvater Hai hat er sich dir als Haole überhaupt genähert.«
    Eine Weile lang schwieg die Alte und strich durch die Luft über Elisas Kopf, dann der Länge nach über ihren ganzen Körper.
    »Du bist in diesem Leben in eine Haole-Haut hineingeboren. Warum?!«
    Hoku sprach das Wort voller Verachtung aus, doch kurz darauf wurde ihre Stimme wieder weicher.
    »Dein Erlebnis in der Grotte, das habe ich nicht vorausgesehen. Seitdem herrscht Verwirrung. Was ist dein Schicksal mit deinem Volk? Was genau habe ich übersehen?«
    Elisa wusste, dass Hoku keine Antwort von ihr erwartete. Die Heilerin suchte ihre eigene Wahrheit tief in Elisas Körper. Summend verweilte sie jetzt an der Stelle über ihrem Unterleib, die der Hai vor mehr als einem Jahr verunstaltet hatte. Ihr Summen begann sich zu intensivieren, wurde zu Tönen und Lauten und schließlich zu einem monotonen Gesang, der Elisa immer mehr einschläferte. Riesige Wellen, dachte sie noch im Halbschlaf. In mir und überall um mich herum sind unglaublich große Wellen. Ich werde ertrinken …
    Da wurde sie auch schon von einer gewaltigen Kraft unbarmherzig in die Tiefe gezogen. Sie war inmitten ihrer Erinnerung mit Großvater Hai.
    Elisa musste jetzt viele, viele Meter unter der Wasseroberfläche sein, denn hier war wenig Licht. Ihr Gegenüber lauerte mit starren Augen. Der große weiße Hai sah sie ruhig an, so als wollte sein Auge ihr etwas sagen. Elisa blickte ebenso ruhig zurück. Sie empfand dabei nicht das geringste bisschen Furcht. Sie war tot, realisierte sie gelassen. Sie musste tot sein, denn sie hörte ihren eigenen Atem nicht mehr. Sie verspürte aber auch keinerlei Not, sondern schwebte in einem gefühllosen, nebligen Niemandsland. Wolken von ihrem Blut, ihre schwebenden Haare im Wasser, der Stoff ihres nassen Kleides, alles war jenseits ihrer Wirklichkeit. Doch, da war noch etwas, das sich hin und wieder zwischen das Auge des Hais und Elisas eigenes schob. Es war ihr Finger. Ihr toter Finger berührte die Haut neben dem Auge des Hais. Wollte Elisa sich mit dem Ungetüm verbinden?
    Sie hörte Musik, das Stampfen von vielen Füßen, die im Einklang waren. Da waren die Stimmen vieler Menschen, dazu das Rauschen mächtiger Wellen. Auch sie wurde Teil eines Tanzes. Klänge trieben Elisa vorwärts, mitten in das Auge des mächtigen Hais. Es wurde dunkel.
    Weit vor sich in einem dunklen Tunnel sah Elisa

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