Tal der Tausend Nebel
sich für einen Moment an seine Brust gelehnt und ihre Augen geschlossen. Sie liebte es, wenn ihr Vater lachte, und fand es wunderbar, ihn ganz für sich zu haben. Er war nie so streng mit ihr wie ihre Mutter. Zudem roch er gut nach Pfeife und den Büchern mit den schweren Ledereinbänden, die sich rechts und links von seinem gewaltigen Schreibtisch türmten.
Elisa entspannte sich an der Brust des Vaters. Und da passierte es. Nur einen kurzen Moment lang war sie unachtsam, aber diese Unachtsamkeit hatte Folgen. Als ätzende Wunde würde sie sich in ihr Unterbewusstsein eingraben.
Das Holzkreuz glitt Elisa aus der Hand. Seine Kante traf den Wurm auf dem Stück Papier. Kurz zuckte der Regenwurm zusammen. Dann lag er in zwei Teilen da. Entsetzt sah Elisa, wie die zwei Teile zunächst noch zuckten und dann langsam still wurden. Elisa hatte Gottes wichtigstes Gebot gebrochen. Durch ihre Unachtsamkeit hatte sie den Wurm getötet.
Heiße Scham stieg ihr ins Gesicht. Schnell glitt sie vom Schoß des Vaters. Sie hörte seine Worte nicht, sondern rannte aus seinem Zimmer so schnell sie konnte. Im Garten versteckte sie sich hinter der Hecke und weinte bittere Tränen der Wut und der Scham. Sie war wütend auf Gott, der den Tod des Wurms zugelassen hatte. Das Kreuz aus Kauai, das sie sich einst so sehnlich wünschte, wollte sie zu ihrer Konfirmation nicht mehr haben. Wenn später ihr Blick im Arbeitszimmer des Vaters darauf fiel, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Ihr Verhältnis zu Gott blieb von diesem Tag an ambivalent. Sie sah das Licht, aber auch den Schatten, denn sie war ein Teil davon.
Elisa war bei der Erinnerung an den zerteilten Regenwurm auf dem Lager der Heilerin zusammengezuckt. In rasender Schnelligkeit glitt sie durch den Tunnel der Stimmen zurück ins Meer. Ihr Auge starrte in das des Haifisches. Sie hörte Hokus Stimme.
»Was ist mit dir und Jesus? Wo ist dein Zuhause in dieser Welt?«
Die Alte bat Elisa, ihre Augen zu öffnen. Elisa gehorchte, obwohl es ihr schwerfiel. Ihre Lider fühlten sich an wie Blei, und sie wollte im geschützten Dunkel ihrer Apathie bleiben. Doch der durchdringende Blick der Heilerin ließ es nicht zu.
»Das Kreuz und der Wurm … sie waren nicht der Anfang. Geh weiter zurück … Du musst weiter gehen, wenn du Antworten finden willst.«
Hoku stützte Elisas Kopf. Dann flößte sie ihr ein wenig von einem Getränk ein, dessen Geschmack Elisa sofort erkannte. Tausend Nebel.
»Die Pflanze hilft dir, die Zeit zu wechseln. Geh durch das Auge von Großvater Hai zurück durch die Zeit. Suche nach dem Kreuz … es wartet auf dich.«
Elisa hatte keine Ahnung, wovon Hoku sprach. Aber sie hatte plötzlich den Wunsch, der Heilerin eine Frage zu stellen. Die kleine Elisa im Arbeitszimmer des Vaters hatte noch ihre Stimme. Vielleicht konnte auch der Kehlkopf der erwachsenen Elisa wieder Worte formen? Schmerzlich wurde ihr bewusst, was sie in der Grotte alles verloren hatte. Wie viele Teile ihrer selbst waren in dieser Nacht gestorben? Elisa wollte ihre Stimme wiederbekommen. Sie sollte zurückkehren, aber auch ihre Kraft und ihre Unschuld.
Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, aber alles, was herauskam, war ein klägliches Knurren und Quietschen. Elisa konnte nicht mehr sprechen. Gott hatte sie bestraft. Aber Hoku schüttelte energisch den Kopf.
»Blödsinn! Dein Gott straft dich nicht … Auch dein Gott will dich nur wachsen sehen. Unsere Götter sind nicht verschieden. Alles, was die göttliche Energie auf deinen Weg legt, dient nur einem Ziel. Dem Licht sollst du entgegenwachsen …«
Elisa sah Hoku erstaunt an. Die Heilerin konnte wirklich jeden ihrer Gedanken lesen. Ihre nächste Frage stellte Elisa in ihrem Inneren – und prompt kam aus Hokus Mund wieder eine Antwort.
»Du willst wissen, warum Großvater Hai dich ausgewählt hat? Und dieser Janson, ist er wirklich ein Mann aus deinem Volk? Du willst wissen, warum er dir Gewalt angetan hat?«
Elisa nickte. Hoku legte ihr sanft ihre Hände an die Schläfen. Energie strömte ins Innere ihres Schädels. Tausende von winzigen Ameisen krabbelten durch Elisas Hirnwindungen. Dann kam der Nebel über sie. Schwach hörte sie jetzt Hokus Worte, wie aus weiter Ferne sprach die Heilerin zu ihr.
»Versuche hindurchzugehen durch alle singenden Nebel, die zu dir kommen werden. Geh und finde deine Antwort. Aber du solltest nicht alleine suchen … Du brauchst deine Helfer. Es gibt Freunde aus der anderen Welt. Großvater Hai ist dein
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