Tal der Tausend Nebel
mächtigster Freund. Er regiert dein Leben und deinen Tod. Aber er wählt nur Kahuna aus, das musst du wissen. Du bist eine von uns, nur eben eine Kahuna in weißer Haut. Du musst jetzt deine anderen Helfer suchen. Das ist wichtig. Gehe in die Zeit zurück, vor Großvater Hai … Geh und suche im singenden Nebel … Ich halte dich … Du wirst den Weg zu mir zurückfinden.«
Elisa umfing erneut grenzenlose Müdigkeit. Als Hoku wieder anfing zu summen, versuchte sie noch einmal, ihre Augen zu öffnen, aber es war schwer. Um sie beide herum schienen jetzt überall dichte Nebelschwaden zu sein. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie die Heilerin eine Feder nahm. Es war eine lange große Feder, die in den Händen der singenden Heilerin zu tanzen schien. Abwechselnd flatterte sie über Elisas Füße.
Das Kribbeln der Ameisen begann zunächst in ihren Zehen, dann in Füßen und Knöcheln. Das kitzelnde Gefühl stieg höher und höher, bis es in ihrem Unterleib zu Wärme und dann in ihrem Oberkörper zu einer starken Hitze wurde.
In Elisas Kehlkopf begann ein Feuer zu lodern, das teuflisch brannte. In dem Sitz ihrer verlorenen Stimme konzentrierte sich alle Energie. Vor Elisas innerem Auge stiegen Bilder von Flammen auf. Sie sah ein Feuer, das am Rande eines kleinen Dorfes am Meer bis hoch hinauf in den Himmel loderte. Wo war sie? War sie auf Hawaii? Vielleicht in einer früheren Zeit? Menschen, die kaum bekleidet waren, standen um das Feuer herum. Ihre Stimmen klangen feindselig und aggressiv. Ihre Worte galten der jungen Frau, die an einen Pfahl gebunden war. Sie weinte. Elisa fühlte ihre Tränen auf ihrer Haut. Sie war diese junge Frau. Aber warum waren alle so wütend auf sie?
Eine Männerstimme übertönte alle anderen. Elisa fühlte eine unglaubliche Angst in sich aufsteigen. Es war für sie schwer, durch die Rauchschwaden hindurch sein Gesicht genau zu erkennen, aber sie wusste mit einem Mal, wer der Mann war. Er war Awapuhi, wilder Ingwer, und der Kahuna ihres Dorfes. Er war aber ebenfalls ihr Lehrer und hatte ihr schon viel beigebracht. Doch jetzt machte er sie verantwortlich für eine schwere Krankheit, die einigen Menschen im Dorf das Leben gekostet hatte. Sie wusste, warum er es tat. Sie hatte sich geweigert, bei ihm zu liegen, obwohl er sie zur Frau wollte, nachdem ihr Liebster an der Krankheit gestorben war. Aber sie konnte ihren Lehrer doch nicht zum Mann nehmen, denn sie liebte ihn nicht. Deshalb wollte er sich an ihr rächen. Sein Stolz war gekränkt. Außerdem musste er von seiner Unfähigkeit ablenken. Nicht einen Einzigen der Kranken im Dorf hatte er vor dem schwarzen Tod retten können, der mit dem Schiff der Weißen an ihre Ufer gekommen war.
Sie blinzelte durch den Rauch. Awapuhi schrie und gestikulierte in ihre Richtung. Die Männer des Dorfes zerrten sie an einem Seil immer tiefer ins Feuer. Da erkannte sie seine Seele. Er sah anders aus als ihr Vergewaltiger Janson, denn ihr Lehrer war ein älterer Hawaiianer, aber seine wütenden Gesten und sein listiger Blick waren die von Janson. War das möglich? Kamen Seelen an den gleichen Orten erneut zusammen, um ihr Schicksal zu wiederholen? Gab es eine offene Rechnung zwischen Janson und ihr? Wieder und wieder machte er eine Geste, die ihren Flammentod bedeutete. Er zeigte mit seinem Götterstab in ihre Richtung und sagte, es sei die Göttin Pele, die ihren Tod forderte, wenn nicht noch mehr Kranke im Dorf sterben sollten.
Sie wollte mit den Männern ihres Dorfes sprechen, konnte es aber nicht, denn sie musste immer wieder husten. Der Rauch biss in ihren Augen, drang in ihre Kehle und tief in ihre Lungen. Der Tod ist ganz nah, dachte sie, und hob ihre Augen gen Himmel. Da sah sie ihn. Über ihr kreiste ein Greifvogel. Sie hörte seinen Ruf und verstand, was er sagte. Ihre Seele sollte sie aus ihrem gefesselten Körper lösen und ihm auf seine Schwingen legen. Er würde sie nach Hause bringen, zu den Göttern, denen sie beide dienten und deren Licht sie von der Erde in den dunklen Sternenhimmel rief. Sie spürte eine goldene Freude in ihrer Brust. Ihr Liebster, der vor einigen Tagen an der bösen Krankheit gestorben war, hatte ihr einen Boten geschickt, um sie zu sich zu rufen. Sie war erlöst. Mit diesem Gedanken sank sie in die Knie, um sich den Flammen zu ergeben. Da spürte sie seine Hand in ihren Haaren. Er riss ihren Kopf an den Haaren zurück, und sie erkannte seine unglaubliche Wut, weil sie sich ihm verweigert hatte.
Wieder schrie der
Weitere Kostenlose Bücher