Tal der Tausend Nebel
es ihrer Tochter besser ging, war sie vollkommen erschöpft zusammengebrochen. Über den Frühling hatte sie sich nur wenig erholt, und jetzt konnte es passieren, dass sie sich an manchen Tagen nicht einmal ankleidete. Die Hitze machte ihr zu schaffen. Nur der Donnerstag, wenn Mutter gemeinsam mit Paul ihrer Verantwortung als Plantagenbesitzerin nachkam, war ihr heilig. Egal wie schwach sie sein mochte, an ihrem Kontor-Tag erschien Clementia immer in tadelloser Aufmachung.
Elisa musste beim Waten ihren Rock noch höher knoten, damit er nicht ganz nass wurde, und hielt unter Wasser Ausschau. Die glitschigen giftgrünen Stiele der Tausend-Nebel-Pflanze wuchsen nur in der sommerlichen Jahreszeit. Keliis Vater hatte ihr vor wenigen Tagen beigebracht, wie sie verarbeitet werden mussten, um zu wirken. Der Vorrat vom letzten Jahr ging jetzt auch im Dorf zur Neige. Getrocknet, zerrieben und zu einem feinen grünen Pulver verarbeitet, war die Pflanze eines der wichtigsten Heilmittel. Es half vor allem, wenn die Lebenskraft schwach wurde und man zur Quelle der Seele reisen musste, um Licht zu holen. Elisa wusste anfangs nicht, was mit der »Quelle der Seele« gemeint war, aber die Wirkung der Heilpflanze hatte sie mehrfach gespürt.
Als sie nach ihrer Ankunft auf Kauai zwischen Leben und Tod schwebte, hatte sie das grüne Pulver von Kelii heimlich verabreicht bekommen. Der wohlmeinende Arzt, der auch Elisa behandelte, durfte nichts davon erfahren. Hexerei und Teufelszeug nannte der Mediziner aus England die Heilmethoden der Hawaiianer, allen voran das grüne Pulver, das er ein gefährliches Rauschmittel nannte. Elisa erinnerte sich deutlich an den plötzlichen Moment der Klarheit, als der Wirkstoff der geheimnisvollen Pflanze zum ersten Mal in ihrem Blut zu spüren war. Dr. Wellington hatte zu dem Zeitpunkt bereits die Amputation ihres Beines beschlossen. Die Instrumente glänzten drohend, während der Arzt am Morgen seiner geplanten Operation die eiternde Wunde an ihrem Bein mit Alkohol desinfizierte. Eine Säge war auch darunter gewesen.
Aber durch die Tausend-Nebel-Pflanze wurde Elisa, die bis dahin vor Schüttelfrost und Fieber kaum ihre Augen hatte öffnen können, mit einem Mal wach. Ihr geschwächter Körper bekam einen Schub plötzlicher Kraft, und sie konnte sich sogar ein wenig aufrichten. »Nein«, hatte sie so ruhig wie möglich beim Anblick der Folterinstrumente gesagt, »ich werde mein Bein behalten. Ich brauche keine Amputation.« Ihre Mutter hatte vor Freude geschluchzt, während sie Elisas erste Worte seit dem Unfall aus dem Deutschen ins Englische übersetzte. Es musste Gottes Wille sein.
Der Arzt hatte Elisa zugenickt und angekündigt, dass er am nächsten Tag wiederkommen würde. Doch wie durch ein Wunder sank in dieser Nacht das Fieber. Dann klang die Entzündung wie von selbst ab. Niemand, nicht einmal ihre Mutter, durfte je erfahren, dass Kelii von da an jede Nacht zu ihr kam. Er war an ihrer Seite, sobald die Mutter eingenickt war. Dabei riskierte er eine schlimme Strafe, denn es war den Hawaiianern verboten, die Wohnräume ihrer Herrschaft zu betreten. Wenn sie nicht im Hause als Dienerschaft arbeiteten, hatten sie nachts hinter dem Zaun, der das Herrschaftshaus schützte, nichts zu suchen.
Elisa stand unbeweglich in dem kühlen Wasser, lauschte dem Zwitschern der Vögel und genoss die kribbelnde Sensation der aufsteigenden Kälte in ihren Beinen. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie noch zwei Beine hatte. Kelii hatte viel gewagt, indem er Nacht für Nacht heimlich zu ihr gekommen war, aber das war ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen. Alles, was sie anfangs von ihm wollte, war das grüne Pulver, auf das sie einen regelrechten Appetit entwickelte.
Nicht der Geschmack der Heilpflanze war es, den Elisa jede Nacht herbeisehnte, sondern die klaren Träume, die sie hatte. Wieder und wieder kam im Traum die junge Frau zu ihr, die auf dem Meeresgrund gerufen hatte. Maja war ihr Name. In der Traumwelt der Tausend Nebel sprachen sie anfangs nicht miteinander. Die schöne junge Frau mit den Mandelaugen, die um den Hals den Zahn eines Haifisches an einem Lederband trug, nahm nur ihre Hand. Eine Kaskade aus Lichtpunkten wanderte über Elisas Wirbelsäule bis hinunter in ihr verletztes Bein. Die Wirkung dieser Pflanze grenzte an ein Wunder. Mit jeder Nacht, in der Maja im Traum zu ihr kam, um ihr die Hand zu reichen, heilte die tiefe Wunde an ihrem Bein weiter. Doch eines Nachts, als sie ihn
Weitere Kostenlose Bücher