Tal der Tausend Nebel
letzten Nebelfelder ging. Alles war feucht, und die Pflanzen hingen voller feiner Tropfen, weil es hier jede Nacht regnete. Wenn es nach ihr ginge, würde sie nur noch weite Kleidung tragen, aber dafür um einiges kürzer, maximal bis zur Wade und nicht bis zum Knöchel herunter. Und dünner müssten die Stoffe sein. Die gestärkte Baumwolle mit dem Spitzenkragen war jetzt schon zu heiß. Sie konnte es nicht leiden, wie im feuchtwarmen Inselklima der Stoff an ihrer Haut klebte. Und die Länge war völlig unpraktisch.
Schnell hatte sich ihr Saum an den Farnen vollgesogen. Elisa musste den schwerer werdenden Rock beim Gehen raffen und fluchte leise vor sich hin. Hier in diesem Tal der Tausend Nebel hörte sie niemand, denn das Dorf war auf der anderen Seite. Es war durch eine hohe Felswand von den Tümpeln mit den wertvollen Heilpflanzen getrennt. Elisa raffte ihren Saum noch höher. Barfuß war sie ohnehin schon. Die Schuhe hingen an ihren Bändern über ihrer Schulter. Elisa war in ihren ersten sechs Monaten auf Kauai eigen geworden, was die Kleider und vor allem auch die Schnürstiefel betraf, die ihr von ihrer Mutter aufgezwungen wurden. Aber noch hatte sie ihre Vorstellungen auf der Plantage nicht durchsetzen können. Nur wenn sie unbeobachtet war, ging Elisa barfuß.
Kurz darauf stand sie mit den Füßen in dem bräunlichen Wasser des ersten Tümpels. Die Kühle war herrlich. In der Nähe des Wasserfalls glaubte sie sich so früh am Morgen allein und hatte vorne einen dicken Knoten in ihren Rock gemacht, um die Hände frei zu haben. Sie wollte im Tümpel genug Tausend-Nebel-Pflanzen sammeln, um für einen Monat Tee für ihre Mutter kochen zu können. Auf der Suche nach den begehrten Wasserpflanzen durchwatete sie mit ihren nackten Beinen langsam das flache Ende. Insgesamt waren es drei Becken, die sich zu Füßen des Wasserfalls gebildet hatten, und durch ihre wärmere Temperatur den idealen Nährboden für die magische Pflanze bildeten. Sie gingen ineinander über, ein Becken ein wenig höher als das nächste, und waren mit sprudelnden Wasserfällen verbunden. Der größte war kaum mannshoch.
Der heilige Platz der Tausend Nebel, wie ihn die Einheimischen nannten, diente tagsüber auch als Badestube und Kinderspielplatz. Hier trafen sich vor allem die Frauen mit den kleinen Kindern, um in der Hitze Abkühlung und Zerstreuung zu suchen, aber nie pflückte eine von ihnen auch nur eine einzige heilige Pflanze. Dieses Privileg war Kelii und seinem Vater vorbehalten. Auch Elisa hatte Kelii um Erlaubnis fragen müssen, allerdings hatte sie das schon vor einigen Tagen getan.
Während sie vorsichtig durch das Becken ging, musste sie erneut lächeln. Nachts trafen sich hier die Liebespaare vor ihrer offiziellen Vermählung, wie Kelii ihr verraten hatte. Doch in dieser frühen Morgenstunde war sie allein. Dieser Ort war in letzter Zeit öfter Elisas geheimer Kraftplatz gegen Kummer und Wut geworden. Das beruhigende Rauschen der Wassermassen des großen Wasserfalls, der einige Hundert Meter weiter oben senkrecht nach unten fiel, empfand Elisa als Trost. Hier fielen ihr bisweilen spontan Lösungen ein, auf die sie auf der Plantage nicht gekommen wäre, weil ihre Tante sie tagsüber kaum in Ruhe ließ. Doch manchmal dauerte es Tage, bis sie Gelegenheit fand, ihr zu entkommen.
Heute hatte Elisa eine fast ohnmächtige Wut in aller Frühe aus dem Bett getrieben. Sie war am Vorabend mit ihrer Tante aneinandergeraten. Mit Bitterkeit dachte sie jetzt an ihre aussichtslos scheinende Situation, während sie vom flacheren Ende des Pools langsam in das Tiefe watete. Das Leiden ihrer Mutter, das nach dem Tod des Vaters begonnen hatte, wurde unter der Behandlung des hiesigen Arztes nicht besser, und ihr Zustand hatte sich in den letzten Tagen verschlimmert. Wenn Elisa keinen Weg fand, ihrer Mutter bis zum nächsten Vollmond zu helfen, würde sie vor dem Winter sterben. Das sagte Elisa ihr Gefühl, aber auch Kelii hatte es bestätigt, nachdem er sich selbst ein Bild vom Zustand ihrer Mutter gemacht hatte.
Dem unfähigen Arzt war nichts anderes eingefallen, als die Dosis des lähmenden Opiats, das der Mutter Tropfen für Tropfen die Lebenskraft raubte, zu erhöhen. Das durfte auf keinen Fall geschehen. In Elisa stiegen spontan Tränen auf, wenn sie daran dachte, wie ihre Mutter in den Wochen nach ihrem Unfall Tag und Nacht an ihrem Bett gesessen hatte. Sie hatte dabei kaum auf sich selber geachtet, deshalb war sie krank geworden. Als
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