Tal der Tausend Nebel
Natürlich würde Elisa sich für einen guten Mann entscheiden, sobald sie wieder ganz gesund sein würde! Es gab Männer wie Kelii, die eine Frau mit Mut, Geist und Esprit wertschätzten und denen eine hässliche Narbe nichts ausmachte. Aber auf der Plantage durfte sie noch nicht einmal einen derartigen Gedanken äußern, denn nur ein weißer Mann kam infrage.
Wenn es nur nach ihrer Tante ginge, müsste Elisa täglich ihren Porzellanteint kultivieren, ihr stümperhaftes Klavierspiel verbessern und voller Entzücken in die Hände klatschen, wenn wieder einmal eine ihrer kleinen Cousinen ihr Skizzenbuch mit ihren Dreckpfoten beschmierte. Dabei war Elisa viel mehr an dem Geschäft interessiert, über das Kelii ihr schon einiges beigebracht hatte, denn er kannte sich zumindest mit der Pflanze Zuckerrohr aus. Aber am liebsten würde sie jeden ihrer Tage mit Onkel Paul im Kontor verbringen, um mehr über den Handel zu lernen. Im Moment durfte sie nur jeden Donnerstag ins Kontor, in Begleitung ihrer Mutter. Es war eine Farce. Statt über Zahlen und Handelsmodalitäten zu reden, hatte Onkel Paul eine Art Teestunde mit gepflegter Konversation aus ihrem gemeinsamen Kontortag gemacht.
Elisa ließ ihre Augen weiter unten am Hang über die jungen Apfelbäume schweifen, die ihr Vater bei seinem letzten Besuch gesetzt hatte. Dieser Teil der Plantage gehörte einzig und allein ihr. Und selbst, wenn manche sagten, dass es minderwertiges Land war, da durch Vulkanaktivitäten Teile des Hangs ins Meer gerutscht waren, überfiel sie bei dem Anblick ein Gefühl von Stolz. Die kleinen Bäume gediehen zwar langsam und ihre Früchte waren nicht besonders groß, aber die Äpfel schmeckten besonders köstlich, wie sie fand. Außerdem war es ein wunderbares Gefühl, ein Stück Land zu besitzen.
Über sich hörte sie einen Falken rufen und lächelte. Auch das war eines der Geheimnisse dieses Tals. Es gab sonst keine Falken auf Kauai, wie Kelii ihr erklärt hatte. Nur im Tal der Tausend Nebel wohnte ein einziges Paar. Angeblich hatte es mit der begehrten Heilpflanze Tausend Nebel zu tun, wie er gesagt hatte. Die Falken waren die Hüter der Nebel. Und die Nebel wiederum, von der Heilpflanze in den Körper gebracht, verscheuchten Krankheiten und brachten das göttliche Licht. So sangen es die Hawaiianer aus Keliis Dorf bei jedem Vollmond oben am großen Felsen, begleitet von ihren Trommeln.
Elisa seufzte. Eines Tages würde Kelii sie mitnehmen, das hatte er ihr versprochen. Aber jetzt wurde es Zeit weiterzugehen, obwohl Elisa sich kaum an dem nebligen Grün im Tal sattsehen konnte. Wie geheimnisvolle Frauen in langen Gewändern sahen manche der weißen Schleier aus, bevor sie von der Sonne in kleine Wölkchen zerteilt wurden.
Elisa musste beim Abwärtsgehen besonders vorsichtig sein. Trotz der Übungen, die sie gewissenhaft täglich ausführte, war sie durch ihr beschädigtes Knie beeinträchtigt. Der Hai hatte nicht nur eine tiefe, mondsichelförmige Narbe auf ihrem Oberschenkel hinterlassen, sondern einer seine Zähne war tief in ihr Kniegelenk eingedrungen. Er war im Knorpel stecken geblieben, bis Keliis Vater ihn entfernt hatte.
Elisa lächelte vor sich hin. Wenn sie überhaupt etwas an ihrer Begegnung mit dem Hai als positiv werten konnte, waren es Kelii und sein Vater. Seit sie von den beiden gerettet worden war, bestand zwischen ihr und Kelii eine Verbindung. Wie ein unsichtbares Band, an dem sie gemeinsam hingen, konnte sich Elisa ein Leben ohne ihren Freund schon jetzt nicht mehr vorstellen. Er war ihr tägliches Lächeln, ihre Freude und ihr Licht. Zur Zeit sahen sie sich fast jeden Tag, da Kelii eine Weile für die Plantage arbeitete. Auch für heute, sobald Elisa mit den frischen Tausend-Nebel-Pflanzen für ihre Mutter auf die Plantage zurückgekehrt sein würde, waren sie verabredet. Allein der Gedanke daran ließ Elisas Schritte schneller werden.
Wenn sie nur nicht ständig mit dem lästigen Stoff kämpfen müsste. Dabei trug sie heute verbotenerweise noch nicht einmal ihr Korsett, auf das die Tante größten Wert legte. Aber mit dem Walgestänge, das bei jedem Schritt in die Rippen pikste, würde der Weg zu den Becken unterhalb des Wasserfalls doppelt so lange dauern. Und nur dort würde sie die Tausend-Nebel-Pflanzen finden, die stark genug waren, um ihre Mutter zu heilen.
Elisas weißes Baumwollkleid hing lose und in lockerem Faltenwurf an ihrem trainierten Körper, als sie so schnell wie möglich den Pfad bergab in die
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