Tal der Tausend Nebel
auf ihrer Brust. Auch ihre Wut spürte Elisa nicht mehr. Stattdessen nahm sie wahr, wie sie mit allem, was sie fühlte und dachte, eins wurde. So war es also, als ihr Vater dem Rotkehlchen zum letzten Mal zuhörte. Seinen letzten Atemzug tat er in diesem hellen Licht. Schön, dachte Elisa, der Tod war einfach nur unfassbar schön. Er war kein grausamer Geselle mit schwarzer Sense, sondern ein rettender Engel aus Licht.
Aus dem grellen Licht hinter Elisas Augenlidern begann sich das Gesicht einer jungen Frau zu formen, das sie anlächelte, so als seien sie schon lange Freundinnen. Elisa konnte erkennen, dass die junge Frau Gesichtszüge hatte, die sowohl polynesisches als auch europäisches Blut verrieten. Auch hörte Elisa eine Stimme, die nach ihr rief. Aus dem Glockengeläut im Inneren ihrer Ohren formte sich der Klang dieser weiblichen Stimme mit großer Dringlichkeit, so als müsste Elisa in der Sekunde ihres Todes noch eine letzte Botschaft empfangen. Ganz klar hörte Elisa einen Namen, der nicht ihr eigener war: Maja.
In diesem Moment biss der Hai zu. Er versenkte seine Zähne tief in Elisas linkem Oberschenkel. Das Wasser färbte sich rot von ihrem Blut.
2. Kapitel
Tal der Tausend Nebel, Sommer 1894
Was genau in den Minuten nach dem Angriff des riesigen Weißen Hais geschah, sollte Elisa erst Jahre später in allen Details erfahren. Kelii hatte sich geweigert, ihr davon zu erzählen, solange seine Freundin noch nicht mit der Narbe an ihrem Bein versöhnt war. Aber von Versöhnung konnte bislang keine Rede sein. Der Hai hatte Elisa für immer gezeichnet, gar entstellt, wie ihre Tante mehrfach betont hatte, als es um die Auswahl des passenden Bräutigams ging. Man hatte das Thema Heirat um sechs weitere Monate verschoben, in der Hoffnung, Elisa würde im kommenden Winter nicht mehr hinken. Es war nicht von Vorteil für eine junge Frau, in die hiesige Gesellschaft eingeführt zu werden, wenn sie körperlich beeinträchtigt war. Es minderte ihren Wert.
Der jährliche Hibiskusblüten-Neujahrsball, so hieß das wichtigste gesellschaftlich relevante Ereignis auf Kauai, verlangte den jungen Damen viel ab. Nicht nur mussten sie die europäischen Tänze perfekt beherrschen, auch sonst wurde um den besten Ehemann konkurriert. Es wurden eigens Ballroben geschneidert, und Mutters Schmuckschatulle wurde geplündert. Haare wurden kunstvoll aufgesteckt und die Kunst der gehobenen Konversation beim Abendbrot geübt. Kurz, die Familien der Plantagenbesitzer investierten in das Balldebüt einiges an Zeit und Geld. Letztes Jahr glaubte allerdings auf der Plantage der Gebrüder Vogel keiner, dass Elisa überhaupt mit beiden Beinen bis zur Jahreswende überleben würde. Umso neugieriger würde man in diesem Jahr auf ihr erstmaliges Erscheinen als Debütantin warten.
Elisa hielt während ihres Aufstiegs zu dem großen Felsen einen Moment inne. Sie liebte den ersten Anblick des Tals der Tausend Nebel, musste aber dringend Atem holen. Der schmale Pfad, der sich durch das smaragdgrüne Dickicht hinauf zu dem Wasserfall am großen Felsen schlängelte, war an diesem Stück besonders steil, bevor es wieder abwärts ins Tal ging. Aber sie hatte von hier einen Ausblick, dessen Schönheit ihr bei jedem Besuch fast den Verstand raubte.
Zu ihrer Rechten lag das Meer, genauer gesagt die Bucht, in der sie angekommen war. Sie konnte von so weit oben sogar das Riff erkennen, in dem der große Hai wohnte, weil sich dort das Wasser anders kräuselte und eine hellere Farbe hatte. Zu ihrer Linken lag das weite Tal in sanften grünen Wellen, von hier aus trügerisch harmlos aussehend. Erst wenn man näher kam, stellte sich das dschungelartige Dickicht an vielen Stellen als undurchdringlich heraus. Deshalb blieb Elisa immer auf den Pfaden, die von den Dorfbewohnern hier oben seit Jahrzehnten festgetreten worden waren.
Das Tal lag auch an diesem Morgen noch in hellen Nebelschwaden, die nach kräftigem Grün duftend nach dem nächtlichen Regen aus den Pflanzen aufstiegen. Sie atmete tief ein und aus und konnte förmlich spüren, wie ihre Lungen sich weiteten. Dieser Geruch war einzigartig und völlig anders als der auf ihrer Plantage, wo es überall süßlich nach Zuckerrohr und Jasmin roch. Da war er wieder, der scheußliche Gedanke an die Plantage und damit an ihre Tante, die ihr das Leben zur Hölle machte.
Elisa war zornig. Warum konnte ihre Tante es nicht lassen, sie bei jeder Gelegenheit vor Onkel Paul als minderwertig hinzustellen?
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