Tal der Tausend Nebel
schon ungeduldig nach dem grünen Pulver fragte, sah er ihr bei Kerzenlicht prüfend in die Iris. Was er sah, gefiel ihm. Er hatte gelächelt.
»Du brauchst die Hilfe von Tausend Nebeln nicht mehr. Dein Körper und deine Seele sind wieder eins«, sagte er auf Englisch.
Eine ganze Woche war er danach nicht mehr zu ihr gekommen. Elisa hatte schlechte Laune und zudem ekelhafte Kopfschmerzen und immerzu starken Durst. Sie schrieb auch diese Symptome der Wirkung von Tausend Nebeln zu und verstand jetzt, warum Dr. Wellington das grüne Pulver als Teufelsdroge der Hawaiianer bezeichnete.
Während Elisa an diesem Tag zum ersten Mal selber nach der magischen Pflanze suchte, überkam sie ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit. Sie hatte viel über Heilung von Kelii gelernt. Aber ihm näherzukommen, war nicht einfach gewesen. Nachdem es ihr besser ging, hatte sie immer wieder versucht, sich für seine Hilfe bei ihm zu bedanken. Sie wollte ihn belohnen. Doch über ihr Geld hatte er nur gelächelt. Er wollte auch keine Kleider oder Tücher für seine Schwester oder seine Mutter, die während dieser Zeit auf Reisen war. Nur für Elisas Sprache hatte er sich interessiert. Er sprach zwar recht gut Englisch, wie sie schnell herausgefunden hatte, mochte die Sprache aber nicht. Weder die Amerikaner noch die Engländer konnte er leiden, wie er ihr sagte. Mit Freude nahm er schließlich Elisas Angebot an, ihn die deutsche Sprache zu lehren.
Sobald sie wieder aufstehen konnte, trafen sie sich Tag für Tag für eine Stunde. Es war nie einfach, sich zu treffen, aber er fand immer einen Weg. Immer wartete er schon auf sie, als würde er spüren, wann Elisa mit ihren Krücken angehumpelt kommen würde. Er begrüßte sie stets mit seinem zurückhaltenden Lächeln, aber Elisa fühlte, dass sein Herz vor Aufregung mindestens genauso heftig pochte wie ihres. Bei jedem ihrer Treffen erfuhr sie mehr über ihn.
Von Geburt an hatte Kelii die Gabe des zweiten Gesichts, was unter den Hawaiianern als klares Zeichen galt. Ihm war das Schicksal eines Kahuna vorherbestimmt.
Kelii sah schon als Kind schlimme Dinge vorher, konnte aber nichts dagegen tun. So hatte er mit vier Jahren eines Morgens Asche auf sein Haupt gestreut, weil sein Großvater an diesem Tag ums Leben kommen würde. Und so war es auch geschehen. Am Abend wurde er erschlagen nach Hause gebracht. Ein englischer Plantagenaufseher hatte so lange mit der Peitsche auf ihn eingeschlagen, bis sein Rückgrat brach.
Elisa hatte nichts erwidert, als sie diese Geschichte hörte. Sie hatte sich auch nicht getraut, nach den Narben zu fragen, die sich wie ein silbernes Muster über den Rücken von Keliis Vater zogen. Auf den Plantagen wurden die einheimischen Arbeiter geschlagen, auch bei ihrem Onkel war das so. Selbst wenn es Elisa nicht gefiel, konnte sie nichts dagegen tun.
Keliis Name bedeutete Oberhaupt seiner Familie. Wegen dieser Bestimmung arbeitete er nicht auf den Zuckerrohrfeldern wie die anderen jungen Männer aus seinem Dorf. Er und sein Vater besaßen ihr eigenes Kanu in der Bucht. Sie waren angesehene Fischer. Bisweilen tauchte Kelii mit seiner Schwester Leilani am Haifischriff nach Perlen, denn dafür gaben die Weißen viel Geld aus. Seine Familie hatte innerhalb des Dorfes einen besonders guten Stand. So zumindest hatte es sich Elisa nach ihrem ersten Besuch in dem malerischen Dorf auf der anderen Seite des Wasserfalls zusammengereimt.
Drei Monate waren vergangen, als Kelii sie zum ersten Mal dorthin mitnehmen konnte, weil sie endlich keine Krücken mehr brauchte. Für Elisa war ihr erster Besuch in dem hawaiischen Dorf eine Offenbarung. Sie hatte das Gefühl, im Paradies angekommen zu sein, denn aufgrund der Gesetze der heiligen Gastfreundschaft wurde sie warm und herzlich empfangen.
Doch Kelii warnte sie vor allzu viel Idealisierung, und sie erkannte nach kurzer Zeit auch Missstände. Schnaps und andere Sorten Alkohol wirkten bei Hawaiianern besonders stark, wie ihr Freund ihr erklärte. Das Blut der Polynesier war anders als das der Weißen. Schnaps machte die Männer willenlos und gefügig, was die Plantagenbesitzer für ihre Zwecke missbrauchten. Innerhalb kurzer Zeit hatte es sich auf den Inseln eingebürgert, den Arbeitern den Großteil ihres Lohnes in billig gebranntem Schnaps aus Zuckerrohr auszuzahlen. Diese Familien verarmten und verrohten.
Kelii und sein Vater tranken nie einen Tropfen. Sie wetterten im Dorf gegen Alkohol, schütteten den Schnaps weg und versuchten
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