Tal der Tausend Nebel
Land zurückgeben und die Inseln verlassen, so lautete die Forderung der Königstreuen. Aufruhr und Widerstand lagen in der Luft.
Das alles wusste Elisa. Mehr als einmal hatte sie versucht, sich während der Überfahrt in die Gespräche zwischen dem Kapitän und seinen Leuten einzumischen, wurde aber aufgrund ihrer Jugend nicht ernst genommen. Oder hatte man sie ignoriert, weil sie nur eine Frau war? Dabei hatte Elisa einen politischen Weitblick, der ihrer Mutter gänzlich fehlte. Nur wollte niemand bei Tisch ihre Meinung hören, sodass sie es schließlich vorzog, alleine in ihrer Kabine zu essen, um dabei lesen zu können.
Elisa sollte mit ihren politischen Befürchtungen recht behalten. In den kommenden Jahren würde ein Großteil der Hawaiianer zu den Waffen greifen, um ihre Königin und vor allem ihre hawaiische Kultur gegen die Übergriffe der Weißen zu verteidigen. Aber wovon Elisa bei ihrer Ankunft auf Kauai noch nichts ahnte, war ihre eigene Rolle in den politischen Wirren der Zeit.
Alles, was Elisa fühlte, als sie zum ersten Mal die atemberaubende Schönheit der Insel in sich aufnahm, war eine ungewisse Sehnsucht, die tief in ihrem Inneren aufstieg. Schon als ihr Vater ihr in Hamburg seine Zeichnungen und Aquarelle von den Ureinwohnern Kauais zeigte, klopfte Elisas Herz laut und fordernd. Wie schön diese Menschen waren, hatte sie gedacht, als sie selber noch ein kleines Mädchen war, das mit Puppen spielte. Und sie hatte eine dieser Puppen braun angemalt und ihr einen hawaiischen Namen gegeben.
Die wohlgestalteten Männer, die in ihren Kanus mit gleichförmigen Bewegungen paddelten, gehörten sicher zu ihren Arbeitern, dachte Elisa. Neugierig musterte sie die näher kommenden Körper. Im Vergleich zu ihrer eigenen Blässe schien die Haut der Männer im Abendlicht wie dunkles Gold zu glänzen, wie die Haut vieler anderer Inselbewohner, die Elisa auf der Überfahrt gesehen hatte.
Ihre Mutter versuchte ein tapferes Lächeln, um zu überspielen, wie viel Angst es ihr machte, von nun an auf einer Insel zu leben, die sich noch dazu in einem Ausnahmezustand befand.
»Ist die Landschaft nicht unglaublich schön hier, mein Kind? Dein Vater hat uns nicht zu viel versprochen. Der Anblick ist zauberhaft.«
Elisa nickte. Gehorsam spielte sie das Spiel mit, vor allem um ihre Mutter zu beruhigen.
»Ja, das stimmt. Hanalei Bay sieht genau so aus, wie Vater es auf dem Aquarell gemalt hat, das in eurem Schlafzimmer hing. Er hat kein bisschen übertrieben. Sieh mal die Felsen dort!«
Elisas Augen leuchteten. Im Licht der untergehenden Sonne bot sich ein unvergleichliches Naturschauspiel. Die Mutter nickte.
»Die Felsen im Tal der Tausend Nebel solltest du skizzieren. Versuche es doch gleich einmal mit unserem Schiff im Vordergrund. Deinem Onkel würde ein Bild unserer Ankunft sicherlich Freude machen. Bis morgen früh hättest du Zeit für erste Impressionen. Die nächsten Wochen könntest du es als Aquarell ausgestalten, wenn du wieder eine Staffelei hast. Die Farben in deinem Kasten müssten noch für ein Bild reichen.«
Elisa war sofort einverstanden. Das Tal der Tausend Nebel, benannt nach einer Pflanze mit berauschender Wirkung, die dort wuchs, war als Motiv genauso spannend, wie ihr Vater es ihr beschrieben hatte. Es schien geradezu etwas Magisches von den bewaldeten Schluchten auszugehen. In dem beginnenden Abendlicht wechselten die Grünschattierungen mit den schnell dahinziehenden Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Nebel stieg aus den tiefsten Tälern steil gen Himmel und bildete über dem großen Felsen einen Kreis, der wie ein Heiligenschein unbeweglich in der Luft stand. Unwirklich und gleichzeitig atemberaubend schön war dieses Tal, das von nun an ihr Zuhause werden würde. Elisa zog bereits das Skizzenbuch aus der Tasche ihres Baumwollkleides. Da sie gerne zeichnete, hatte ihre Mutter in jedes von Elisas Kleidern eine extratiefe Tasche für Papier und Stifte genäht.
In sorgfältigen Strichen brachte Elisa die ersten Eindrücke ihrer neuen Heimat zu Papier. Das türkise Meerwasser vor dem weißen Sand in der Bucht. Das strahlende Grün der satten Vegetation. Hier strotzte das Land von Fruchtbarkeit. Vom Schiff aus sah Elisa wilden Dschungel, aber auch kultivierte Flächen. Im Osten der gezackten Hügelkette standen Bäume in regelmäßigen Reihen. Dort musste bereits die erste Pflanzung ihres Onkels liegen. Ihr Vater und ihr Onkel hatten vor zehn Jahren für sehr wenig Geld den Eingeborenen
Weitere Kostenlose Bücher