Tal der Tausend Nebel
immer dran, du bist nicht irgendwer, sondern die Erbin deines Vaters. Wir müssen ihn hier würdevoll vertreten. Denk an deinen Onkel und deine Tante. Sie erwarten von dir, dass du deinem Vater Ehre machst.«
Elisa steckte ergeben ihr Skizzenbuch weg und blickte gen Abendhimmel. Ein Anflug von Traurigkeit überfiel sie. Wie immer, wenn sie an ihren Vater dachte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Sein Tod hatte eine große Wunde in ihr Herz gerissen. Aber sie wusste, dass diese Wunde irgendwann heilen würde, weil sie noch jung war. Das hatte der Pfarrer gesagt, als er Elisa nahegelegt hatte, gut auf ihre Mutter zu achten. Seit dem Tod ihres Mannes war Clementia Vogel stark abgemagert und hatte sich auch sonst verändert. Es wäre gut gewesen, wenn sie mit ihrer Tochter über ihren Schmerz hätte reden können, aber das war nicht Clementias Art. Der bittere Zug um ihre Mundwinkel zeugte jedoch von den heftigen Kämpfen in ihrem Inneren, denn die Trauer nagte an ihr.
Sehnsüchtig folgte Elisas Blick im Abendlicht einem Vogelschwarm, der vor dem Hintergrund der grünen Felsen seine weiten Kreise zog. Elisa konnte rötliches Gefieder erkennen. Als die Vögel über dem Schiffsmast kreisten, hörte sie ihr Lied zum ersten Mal. Sie sangen hoch und pfeifend, diese polynesischen Vögel. Es war etwas Klagendes in ihrem Ruf, und wieder musste sie an ihren Vater denken. In den letzten Tagen seiner Krankheit hatte er fast nur noch von dieser Insel gesprochen, und jede einzelne Vogelart hatte er Elisa beschrieben. Er war sehr gut im Nachahmen von Vogelstimmen gewesen. Elisa spürte plötzlich einen Kloß in ihrem Hals. Sie wünschte sich sehr, dass ihr Vater in diesem Moment bei ihnen hätte sein können.
»Hörst du ihr Lied, Mama? Die Vögel heißen uns auf Kauai willkommen. Ist es nicht schön?«
Clementia antwortete nicht. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, wie so oft in letzter Zeit. Elisa lächelte schmerzlich, während sie ihren Kopf in den Nacken legte, um die Exoten besser beobachten zu können. Der Schwarm bestand aus etwa zwanzig Vögeln, die aussahen wie kleine Papageien.
»Sie singen von einem glücklichen Leben, das auf der Insel auf uns wartet – auf uns beide, Mutter.«
Aber die Mutter schüttelte langsam ihren Kopf.
»Für mich gibt es kein echtes Glück ohne deinen Vater, aber vielleicht finde ich hier meinen Frieden.«
Leise waren ihre Worte, die der Abendwind gen Himmel trug. In ihnen hörte Elisa erneut den Wunsch ihrer Mutter nach Erlösung. Seit dem Tod des Vaters hatten sich nicht nur Trauerfurchen in das einst schöne Gesicht ihrer Mutter eingegraben, auch auf ihrem Herz lag ein dunkler Schatten.
Eine plötzliche Angst ließ Elisa im Licht der Abendsonne frösteln, während sie stumm aufs Wasser starrte. Ihre Mutter war der einzige Mensch auf der Welt, der ihr noch nahestand. Ihren Onkel Paul, bei dem sie von nun an leben würden, hatte Elisa nur ein einziges Mal gesehen. Seine Frau kannte sie lediglich aus Erzählungen. Elisa konnte den Gedanken, ihre Mutter auch noch zu verlieren, nicht ertragen. Energisch schüttelte sie ihre düsteren Gedanken ab.
»Wir fangen auf Kauai ein neues Leben an. Du wirst wieder lachen. Wir werden glücklich sein, das verspreche ich dir.«
Obwohl sie an Deck in Sichtweite der Matrosen waren, umfing Elisa die hagere zarte Frau jetzt behutsam. Ihre Mutter, fast einen Kopf kleiner als sie, fühlte sich in ihren Armen an wie ein zerbrechliches Vögelchen. Mit einem Anflug von spontaner Zärtlichkeit drückte Elisa ihr einen Kuss auf die Wange.
»Du wirst sehen, Mama, von nun an wird alles gut. Mit Onkel Pauls Hilfe werden wir uns ein eigenes Haus auf Vaters Land bauen. Ich werde zeichnen und Bilder malen. Du wirst wieder Klavier spielen. Wenn wir wollen, werden wir beide auf dieser Insel ein wunderbares, neues Leben führen und das graue Hamburg nicht ein kleines bisschen vermissen. Es gibt bei Onkel Paul sogar schon ein Klavier für dich. Er hat es uns doch geschrieben, nicht wahr?«
Clementia schwieg. Elisa spürte das leichte Zittern im Körper ihrer Mutter, das in letzter Zeit immer stärker geworden war. Manchmal konnte Clementia nicht einmal mehr einen Faden in eine Nadel einfädeln. Elisa schmiegte ihr Gesicht an das ihrer angespannten Mutter und flüsterte ihr ins Ohr: »Hier wirst du auch wieder ganz gesund werden können, das fühle ich.«
Um ihre Worte zu bekräftigen, strich Elisa ihrer Mutter über die Wange und wischte eine Träne ab.
»Vater
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