Tal der Tausend Nebel
halbem Weg zum Wasserfall stehen und drehte sich nach der langsameren Elisa um. Sein Lächeln von vorhin hatte sich noch vertieft, sodass seine strahlend weißen Zähne sie jetzt fröhlich anblitzten: »Ich bin immer Kelii, dein Freund. Warum Angst vor einem Freund? Du kannst bei mir ohne Kleider sein, Elisa. Hier sieht uns niemand! Warum hast du trotzdem Angst vor Peles Rache?«
Wieder hatte er erraten, was sie gerade dachte. In gewisser Weise hatte er recht. Elisa hatte stets Angst, bestraft zu werden. Selbst wenn sie alleine in ihrem Zimmer war und nur an Kelii dachte, fühlte sie sich schon schuldig. Es war aber nicht die hawaiische Vulkangöttin, die sie fürchtete, und auch nicht die strengen Gesetze ihrer eigenen Religion, sondern die gesellschaftliche Ächtung. Doch darüber würde sie nicht mit Kelii sprechen. Sie wusste, wie es ihn verletzte, dass Kanaka für viele Plantagenbesitzer so etwas wie bessere Primaten waren.
Elisa holte auf. Erst als sie direkt vor Kelii stand, antwortete sie ihm frech mit einem seiner eigenen Lieblingssprüche: »Warum sollen wir gerade jetzt über die Fische im tiefen Wasser sprechen? Die Sonne ist heute dafür viel zu glücklich!«
Mit diesem Spruch hatte sie mitten ins Schwarze getroffen, wie sie an seinen bebenden Mundwinkeln erkennen konnte. Kelii war kurz davor, in sein lautes Lachen auszubrechen. Sie liebte dieses Lachen, das tief aus seinem Bauch heraus zu kommen schien. Er liebte es vor allem, über die verrückten Bräuche der Haole zu lachen. Viele Sitten der Einwanderer erschienen ihm widersinnig und traurig im Vergleich zu den reichen spirituellen Gebräuchen seines eigenen Volkes.
Die Weißen tanzten beim Gebet nicht für ihre Götter, sondern standen mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen wie ungezogene Kinder. Ihre Körper waren eingeschnürt in feste Stoffe, sodass sie nicht frei atmen konnten. Wenn die Frauen der Haole besonders schön sein wollten, dann zwangen sie sich in Folterinstrumente aus den Knochen von Walen, die extra dafür sterben mussten. Fassungslos war Kelii gewesen, als er auch bei Elisa ein Korsett gesehen hatte. Warum musste alles bei den Haole irgendwie mit Schmerz und Strafe zu tun haben?
Elisa hatte keine Antwort auf seine Fragen. Vieles an ihrer eigenen Kultur schien ihr tatsächlich absurd, je mehr sie erkannte, dass es auch andere Lebensentwürfe gab. Deswegen mochte sie seinen Spruch über die Fische im tiefen Wasser auch so gerne. In diesem Moment wollte sie nicht erklären, warum sie sich für ihren nackten Körper vor ihm schämte. Viel lieber wollte sie ihre kurze verbleibende Zeit am Wasserfall mit ihm genießen. Er nickte.
»Die Sonne ist heute sehr glücklich. Auch der Wasserfall ist froh, dass Elisa am Morgen zu Besuch gekommen ist.«
Elisa lächelte. Er war wirklich der beste Freund, den sie in ihrem Leben hatte. Nicht einmal Alexandra, ihre langjährige beste Freundin in Hamburg, war ihr vertrauter gewesen als Kelii. Sie war dankbar für sein versöhnliches Lächeln. Er würde sie nicht dazu zwingen, jetzt weiter mit ihr darüber zu sprechen, wie eigenartig ihr Volk der Weißen war, zumindest hoffte sie das. Doch schon bei seinem nächsten Satz merkte sie, dass er es ihr doch nicht ganz so einfach machen würde.
»Wir reden, wenn die Nacht kommt. Zu heiß hier für Wahine mit traurige Haut voll mit Angst.«
Eine weitere Provokation seinerseits. Aber Elisa wollte keinen Streit. Deshalb nickte sie ergeben, um zu signalisieren, dass sie nachts mit ihm über das Thema sprechen würde.
»Lass uns bitte zum Wasserfall gehen. Ich muss bald zurück … sonst bekomme ich Ärger.«
Sie setzten ihren Weg fort. Um einige große Bäume mussten sie herumklettern, und kurze Zeit verlor Elisa den starken Rücken vor ihr aus den Augen. Ihr Bein begann wehzutun, und mit einem Mal war sie schlecht gelaunt, weil Kelii wieder einmal recht hatte. Vieles von dem, was die Europäer hier taten, war absurd. Und ihre Arroganz und Unwissenheit, was die Hawaiianer betraf, war einfach nur beschämend und dumm. Selbst das lokale medizinische Wissen sollte ausgerottet werden, sodass die westlichen Ärzte das Monopol auf Heilung haben würden. Dabei waren es ohnehin nur die Weißen, die immer neue gefährliche Krankheiten in diesen abgelegenen Teil der Welt einschleppten.
Kelii hatte eigentlich fast immer recht mit dem, was er tat und sagte. Nur musste Elisa fast immer gegen ihn rebellieren. Sie wusste bisweilen selber nicht, was eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher