Tal der Tausend Nebel
klettern. Es war das erste Mal, dass Elisa es alleine wagte. In der Vergangenheit war Kelii immer von Felsen zu Felsen vorausgeklettert und hatte ihr seine Hand gereicht. Ihr verletztes Bein hatte es ihr nicht erlaubt, selber die Balance zu halten. Doch heute fühlte sie sich sicherer als sonst. So schnell ihre nackten Füße sie trugen, hüpfte sie fast übermütig vorwärts. Kelii hatte Mühe ihr zu folgen.
»Warte! Du wirst ausrutschen!«
Aber Elisa fühlte sich sicher. Sie verstärkte ihre Anstrengung und konnte sogar ein kleines Stück weit springen. Provozierend sah sie sich nach ihm um.
»Normalerweise ermutigst du mich immer. Ich soll doch die Muskeln in meinem Bein trainieren …«
Kelii versuchte, sie auf den Felsen zu überholen, aber Elisa machte es ihm nicht leicht.
»Du machst es gut!«, rief er ihr anerkennend durch das Tosen zu.
»Dein Bein ist jetzt viel besser. Ich sehe kaum noch den Hai …«
Den Rest seiner Worte verschluckte der Wasserfall. Fast gemeinsam kamen sie an ihrer Lieblingsstelle an. Sie sahen in die sprühende Gischt vor ihnen, in der sich ein zarter Regenbogen bildete. Die Sonne kletterte jetzt sehr schnell den Himmel herauf.
»Komm, wir haben nicht viel Zeit!«
Mit lautem Jubel stürzte sich Kelii als Erster in das seitliche Becken, in dem der kleine Wasserfall den gläsernen Vorhang bildete. Das letzte Mal hatten sie hier mit anderen aus dem Dorf gebadet. Heute jedoch waren sie allein. Alles war anders.
Während Elisa in ihrem Unterkleid untertauchte, spürte sie die fordernd klopfende Hitze zwischen ihren Beinen. Sie schickte unter Wasser ein Stoßgebet gen Himmel.
»Vergib mir meine Sünde, Vater.«
Kurze Zeit später, in der Höhle, war es Elisa, die hinter dem gläsernen Vorhang aus Milliarden Tropfen die Initiative ergriff. Sie küsste ihren verdutzten Freund mitten auf seine sinnlichen Lippen.
»Du willst …?«
Sie nickte aufgeregt und flüsterte: »Ich will ein Himmelslied, unser Himmelslied, aber du musst bitte aufpassen …«
Kelii brauchte nur eine winzige Sekunde, um zu begreifen, dass endlich der Zeitpunkt gekommen war. Dann begann er, ihre Lippen zu küssen, zunächst zögerlich, dann voller Hunger. Seine atemlose Leidenschaft ließ Elisa alles um sie herum vergessen. Als er ihren Unterrock abstreifte, um ihren heißen Körper an den verbotenen Stellen zärtlich zu küssen, hatte sie das Gefühl, eins zu werden mit der tosenden Kraft des Wassers. Ihre Körper sangen zusammen, und es war wunderbar.
Weder Kelii noch Elisa ahnten, dass sie nicht die einzigen frühen Besucher am Wasserfall waren.
3. Kapitel
Die Plantage, Sommer 1894
Zurück auf der Plantage verabschiedete sich Elisa unter den schattigen großen Bäumen mit einem letzten schnellen Kuss von Kelii. Keinesfalls durfte sie jemand sehen.
»Schnell, du musst weg!«
Er sah ihr fragend in die Augen.
»Wann sehen wir uns wieder?«
»Heute noch … später. Ich, wir … wir müssen nachdenken. Wir müssen einen Weg finden … für uns! Ich, ich glaube, dass ich dich liebe … Das ist doch die Liebe, nicht wahr?«
Er lächelte traurig und nickte. Sie wusste auch ohne Worte, dass er ebenso fühlte wie sie. Aber beide hatten sie Angst. Es gab keine Paare wie sie. Er nahm sie kurz in die Arme und drückte sie an sein heftig klopfendes Herz.
»Später, wir reden später. Aber wir reden auch über deinen Goethe, ja? Und … Elisa. Ich fühle wie du. Du bist meine Wahine. Wir gehören zusammen.«
Damit war er zwischen den Bäumen verschwunden.
Elisa schaffte es gerade noch, ungesehen ins Haus zu kommen. In ihrem Kopf überschlugen sich euphorische Gedanken. Jetzt, da sie wusste, dass auch Kelii sie liebte, war alles anders. Sie würde einen Weg finden, um auch offiziell mit ihm zusammen zu sein. Es musste einfach möglich sein.
Sie hörte, wie bereits ungeduldig ihr Name gerufen wurde. Tante Katharina war wieder einmal am Rande ihrer Nerven mit ihren Mädchen.
»Michaela, lass deine Schwester in Ruhe! Hildegard, nimm Barbara an die Hand und geh mit ihr hinüber in die Küche, bis ich Elisa gefunden habe …«
Wie meistens ließ ihre Tante ihrem Unmut freien Lauf. Elisa hütete sich davor, Katharina entgegenzugehen. Sie wusste genau, wie ekelhaft ihre Tante war, wenn sie mit ihrem Säugling eine schwierige Nacht gehabt hatte. Sie ließ deshalb durch eines der Hausmädchen ausrichten, dass sie sich noch um ihre kranke Mutter kümmern müsste, bevor sie heute ihre drei Cousinen unterrichten
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