Tal ohne Sonne
Sapa hatte ihre Tochter Lakta an sich gedrückt, wie es alle Mütter mit ihren Kindern tun, hatte geweint und gesagt: »Lakta, das ist nicht gut. Er ist ein fremder Gott.«
Und sie hatte geantwortet: »Aber ich liebe ihn, und ich will eher sterben, als ohne ihn zu leben.«
»Dein Vater wird ihn umbringen.«
»Dann muß er mich auch töten.«
»Vielleicht tut er es sogar.«
»Wenn er es nicht tut, stoße ich mir vor seinen Augen seinen Speer in die Brust.«
»So sehr liebst du den Weißen?«
»Ich kann nicht mehr leben ohne ihn! Mutter, weißt du, was Küssen ist?« Sie sprach das Wort auf deutsch aus, so wie sie es von Schmitz gehört hatte – für einen Uma ein seltsamer, zischender Laut.
Sapa sah ihre Tochter betroffen an und wiederholte das Wort küssen. Es klang bei ihr wie kusa oder kusan.
»Das ist Küssen, Mutter«, sagte Lakta, nahm Sapas Kopf zwischen ihre Hände und drückte ihre Lippen auf die Lippen der Mutter. Dabei spielte sie ganz zart mit der Zungenspitze.
Sapa saß steif, unbeweglich auf der Matte und blieb auch so sitzen, als Lakta ihren Kopf losließ und sich zurückbeugte. Mit großen, glänzenden Augen sah sie ihre Mutter an. »Das war ein Kuß«, sagte sie glücklich. »Wie war es, Mutter?«
Sapa erwachte aus ihrer Erstarrung und wischte sich über den Mund. Ein seltsames Gefühl hatte sie während des Kusses durchronnen, vor allem, als sie die Zungenspitze Laktas spürte. Es war ein Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte, das sie noch nie empfunden hatte und das durch ihren ganzen Körper gezogen war, vom Kopf bis zu den Füßen. »Es ist der Hauch eines bösen Geistes«, sagte sie leise. »Er beherrscht deinen Körper.«
»Ist es nicht ein Wunder?«
»Ich weiß es nicht, Lakta, aber opfere dich nicht diesem Dämon. Du wirst keine Uma mehr sein. Jeder darf dich töten.«
»Man soll keinen Menschen töten, sagt Gott.«
»Welcher Gott?«
»Von dem der große Weiße erzählt, dem wir ein Haus gebaut haben, das er Kirche nennt. Er kann so vieles erzählen. Von einem Krieger, der Jesus hieß und den sie an ein Kreuz genagelt haben.«
»Was ist ein Kreuz? Was ist Nageln?«
»Er wird es auch dir erzählen, Mutter. Komm morgen mit, wenn ich zu ihm gehe und ihm zuhöre. Es sind so schöne Geschichten. Und Bilder zeigt er von fernen Ländern. Hinter unserem Wald gibt es eine andere Welt. Glaub mir, er zeigt sie dir, wenn du mit mir zu ihm gehst.«
Sapa nickte und legte sich auf die Matte zurück. Sie schloß die Augen und dachte an das seltsame Gefühl, das sie vorhin durchronnen hatte. Küssen nannte man das? Welch ein geheimnisvolles Ding! Es weckte Sehnsucht nach Dai Puinos Umarmung. Sie würde es mit Dai Puino tun und sehen, wie er es empfand. Es war ja so einfach: Lippe auf Lippe, mit einem leichten oder härteren Druck, und dann die Zungenspitze, züngelnd wie eine Schlange, zwischen die Lippen des anderen. Dai Puino würde staunen …
Schmitz und Samuel, die bewußt etwas später als Lakta zur Hütte Dai Puinos gehen wollten, hockten sich neben Leonora und Zynaker auf den Boden und aßen ein Stück Fladen mit Honig.
»Wenn ich euch jetzt etwas erzähle«, sagte Schmitz, »dann bleibt ruhig und springt nicht auf. Das ›Tal ohne Sonne‹ liegt nebenan …«
»Was sagst du da?« Leonora hatte Mühe, auf ihrem Holzklotz sitzen zu bleiben.
Auch Zynaker wurde unruhig. »Wer hat dir das gesagt?« fragte er.
»Lakta. Kein Krieger spricht darüber oder wagt sich hinein. Sie hat es durch Zufall entdeckt. Das ›dampfende Tal‹ nennen es die Uma auch noch. Die Talsohle ist ständig von Nebel bedeckt. Keiner weiß, daß hier die Berge auseinanderklaffen und einen schmalen Einschnitt bilden. Aus der Luft sieht es wie eine geschlossene Waldfläche aus, über der Nebel liegt. Deshalb ist das Tal auch auf keiner Karte eingezeichnet. Es gibt es offiziell gar nicht. Und nun – ruhig bleiben! – die ganz große Entdeckung: Am Abhang zu diesem Tal haust der ›Geist der donnernden Wolken‹, jener Geist, der Krieger mit einem Loch im Kopf oder in der Brust tötet, wenn sie ihm zu nahe kommen. Im Klartext: Dort lebt ein Mensch und knallt mit einem Gewehr herum. Das ist jetzt sicher.«
»Mein … mein Vater?« fragte Leonora ganz leise.
»Wer weiß das?«
»Er hätte nie einen Menschen töten können. Nie!«
»Wenn es um das eigene Leben geht …«
»Er wäre eher davongelaufen.«
»Im ›Tal ohne Sonne‹ gibt es kein Weglaufen mehr.« Zynaker stand von seinem Holzklotz auf.
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