Talk Talk
herumfuhr und sie den Hörer abnahm.
Eine Stunde kroch dahin, dann noch eine. Der Polizist war längst verschwunden, und der Wartebereich füllte sich wieder. Dana blätterte in Zeitschriften und betrachtete die Gesichter der Patienten, die, gestützt von Verwandten oder Freunden, hereinkamen und hinausgingen, mit verzerrten Gesichtern, die sich um die brennenden, leidenden Augen zusammenzogen. Sie hatte nichts Neues über Bridger erfahren, und als das Licht vor den Fenstern schwand und sich der Abend herabsenkte, wandte sie sich zu Terri Alfano und sagte ihr, sie solle lieber nach Hause gehen. »Du brauchst nicht hierzubleiben und mir Gesellschaft zu leisten«, sagte sie laut, obgleich das nicht stimmte. Sie freute sich über die Gesellschaft, sie brauchte sie. Sie war verwirrt und verletzt, das Schuldgefühl lastete auf ihr: Es war alles ihre Schuld, sie hatte ihn da hineingezogen, sie hatte ihn hierhergebracht, und wozu? Sie hätte nicht so stur sein sollen. Sie hätte alles auf sich beruhen lassen sollen. Sie hätte die Sache der Polizei und den Kreditkartengesellschaften überlassen sollen, anstatt die Amateurdetektivin zu spielen, anstatt es persönlich zu nehmen, als wäre es diesem Dieb nicht vollkommen egal, wer sie war, als wäre das irgendwie wichtig, als wäre sie wichtig. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Aber das Schlimmste, das, was sie verfolgte, während sie auf den Boden starrte, auf dem Stuhl hin und her rutschte und den Blick hob, um die Schwester, die Uhr und die Schwingtür anzusehen, die sich nie öffnete und nichts preisgab, das Schlimmste war, ihn im Stich gelassen zu haben, als er sie am dringendsten gebraucht hatte, als er keine Luft mehr bekommen, sich an den Hals gegriffen, sich hin und her gewälzt und die Schmerzen empfunden hatte, die die ihren hätten sein sollen. Es war eine moralische Prüfung, und sie hatte sie nicht bestanden.
»Schon in Ordnung. Mir geht’s gut.« Terri las in einer Zeitschrift, die Dana bereits zweimal durchgeblättert hatte. Sie saß ganz still und aufgerichtet und verströmte Ruhe. Mit dem grauen Rock, der dazu passenden Jacke und der rosaroten Bluse wirkte sie professionell, beinahe spröde, dabei war sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Dolmetschern, nicht im mindesten kalt oder steif. Iverson und seinesgleichen waren kleine Leute – sie wollten auf Kosten anderer groß sein, sie wollten andere in einem fortwährenden Psychodrama aus Herrschaft und Abhängigkeit dominieren.
»Wirklich«, sagte Dana und ließ ihre Zeitschrift sinken, »du hast bestimmt was Besseres zu tun...«
Terri zuckte die Schultern, breitete die Hände aus und lächelte. Sie hatte Dana von ihrem Freund erzählt und davon, daß sie kaum an etwas anderes denken konnte, obwohl es jetzt schon sechs Monate her war, daß er wegen eines Jobs, den er sich einfach nicht entgehen lassen konnte, in den Mittleren Westen gezogen war. Sie hatte erzählt, wie sehr sie darauf wartete, daß er zurückkehrte. Sie hatten über Terris Eltern gesprochen, die beide taub waren – Mutter Vater taub , gebärdete sie – und für die sie immer gedolmetscht hatte, über die schlechte Bezahlung, die Überstunden und die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft der Gehörlosen, die sie empfand. Und die Schuldgefühle. Nicht zu vergessen die Schuldgefühle. Sie hatten über Bridger gesprochen, über die Gehörlosenschule in San Roque. Über Peck Wilson. »Glaub mir«, sagte Terri und gebärdete zugleich, »es ist in Ordnung. Ich möchte gern bleiben. Was ist, wenn der Arzt dir was zu sagen hat, irgendwas... was weiß ich, irgendwas Wichtiges? Vielleicht sogar Entscheidendes?«
»Ich kann vom Mund ablesen.«
»Medizinische Fachausdrücke?«
»Er kann sie ja aufschreiben.«
Sie schwiegen und sahen eine älteren Frau in Hauskleid und Pantoffeln zu, die wie ein trauriges altes Schiff bei Flaute auf den Empfangstresen zusteuerte. In Terris Gesicht erblühte ein Lächeln. Willst du wirklich, daß ich gehe? gebärdete sie.
Dana schüttelte den Kopf. Und dann schnippte sie zur Bekräftigung zweimal mit Zeige- und Mittelfinger gegen den Daumen: Nein .
Es war nach neun, als die Schwester, mit der sie bei Bridgers Einlieferung gesprochen hatten, durch die Schwingtür trat. Sie trug einen OP -Kittel und die dazugehörige Kappe, und an der Hüfte hatte sie einen verräterischen dunklen Fleck. Dana und Terri erhoben sich, und als die Schwester durch den Saal auf sie zukam, erkannte Dana an ihrem Gesicht und
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