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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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anrufen. Wenn er dort war, wo er hinwollte. Aber wo war das?
    Ohne wirklich zu merken, was er tat, war er auf die Route 9 in Richtung Süden abgebogen. Er probierte verschiedene Radiosender aus, während sich die Bäume rechts und links der Straße zu einem gewaltigen schwarzen Kontinuum verdichteten, in dem nur hier und da eine Lücke klaffte: eine Wirtschaft, eine Tankstelle, ein Firmengebäude mit Nachtbeleuchtung und leerem Parkplatz. Vor einiger Zeit war er an Fishkill vorbeigekommen, hinter ihm fuhren ein paar Wagen, ab und zu kam einer entgegen, und er hatte es nicht eilig, er saß im Schein der Armaturenbeleuchtung am Steuer, als wäre das alles, was von ihm erwartet wurde. Wenn die Straße sich zu mehreren Fahrspuren weitete, nahm er die rechte und ließ die anderen Wagen vorbeiziehen. Die Musikauswahl war nicht besonders – hauptsächlich Oldies –, aber er fand einen Sender, der Reggae spielte, ein Stück von Black Uhuru, gefolgt von Burning Spear und dann natürlich Marley, was sonst? Seine Stimmung hob sich. Er fühlte sich beinahe menschlich. Und als neben der Straße ein Lebensmittelladen auftauchte, fuhr er auf den Parkplatz und kaufte eine Tüte Chips und ein Sechserpack Bier.
    Er hatte nicht die mindeste Absicht, auch nur in die Nähe des Hauses zu kommen, aber als die Ausfahrt zur 9D und der Straße angezeigt wurde, die von Cold Spring am Fluß entlang nach Garrison führte, setzte er den Blinker und bog ab, und nun war er in den tieferen Tiefen des großen Waldes, auf einer dunkleren, weniger befahrenen Straße, hörte Reggae, bis der Empfang nachließ, und trank das zweite Bier. Und dann kam er an der alten Kirche und dem Friedhof mit den verwitterten Grabsteinen vorbei, alles still, alles friedlich, der Mond stand jetzt über den Bäumen, es war Samstag nacht, Viertel nach elf, und nur hin und wieder begegnete ihm ein Wagen und fuhr erschauernd vorbei. Es war wirklich ruhig hier draußen – deswegen hatte er sich ja für diese Gegend entschieden –, und er fuhr etwas langsamer als erlaubt und öffnete die Fenster, um die fette Luft auf dem Gesicht zu spüren und das Brüllen der Insekten zu hören. Als im Scheinwerferlicht der schwarze Schimmer seines Briefkastens und der Widerschein der Kieszufahrt auftauchten, empfand er den Verlust so heftig und unmittelbar, daß es wie ein Schlag war, dessen Schockwelle vom Kopf durch den ganzen Körper bis in den Fuß lief, der prompt auf die Bremse trat und den Wagen beinahe zum Stehen brachte, bis er zur Besinnung kam und wieder Gas gab, im selben Augenblick, in dem ihn der Wagen hinter ihm hupend überholte.
    Was tat er hier? Er wußte es nicht. Doch an der nächsten Seitenstraße, einer Zufahrt zu einem halben Dutzend Häuser, die jetzt nur als verstreute Lichter vor schwarz überzogenen Bäumen zu erkennen waren, bog er rechts ab und machte den Motor aus. Er widerstand dem Impuls, noch eine Dose Bier zu öffnen – es schmeckte nicht mal, es blähte einen nur auf, und man wurde träge –, und zog das Handy hervor. Eigentlich wollte er Sandman anrufen, doch dann besann er sich und ließ es bleiben. Vielleicht würde er ihn überhaupt nicht anrufen. Vielleicht würde er einfach alles schießenlassen. Verschwinden. Sollten ihn doch alle am Arsch lecken. Es war doch nicht seine Schuld, daß diese Frau – diese Taubstumme, diese Verrückte – ein solcher Bluthund war. Sie war die eine unter tausend, unter einer Million. Na schön. Na gut. Er saß im Dunkeln, fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt, die Finger klebrig von den Chips, er spürte die Wirkung von zwei Dosen Bier und versagte sich die dritte, und alle Fahnen waren oben, alle Alarmglocken schrillten – Hau ab, hau sofort ab! –, und so wählte er zum hundertstenmal an diesem Abend Natalias Nummer.
    Die Insekten brüllten. Das Mondlicht fiel wie Laserstrahlen durch die Bäume und zerschnitt die Motorhaube des Wagens. Und plötzlich war ihre Stimme da, ihre süße, rauchige Stimme mit dem eckigen Akzent: Hier ist Natalia. Ich bin nicht da, bitte. Hinterlassen Sie eine Nachricht. Nach dem Piep. Die Wut stieg wieder in ihm auf, eine rasende, impulsive, heiße Wut, eine ätzende Säure, die ihn durchströmte, so daß er an sich halten mußte, um das Handy nicht auf das Armaturenbrett zu schlagen, bis nichts mehr davon übrig war. Er keuchte, seine Augen fühlten sich an, als würden sie gleich kristallisieren. Und dann, als wäre es vorherbestimmt, als wäre er deswegen gekommen, öffnete

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