Tallinn-Verschwörung
einem gewissen Stolz dachte sie daran, dass es wohl kaum einen zweiten Hacker auf der Welt gab, dem dies gelang.
Was eigentlich nur zur Rettung ihres Selbstbewusstseins gedacht war, erwies sich als interessanter, als sie erwartet hatte. Die Ronald Reagan überwachte den Schiffs- und Luftverkehr im weiten Umkreis. Um die Flugzeuge kümmerte Petra sich nicht. Von denen durfte sich keines Tallinn ohne Erlaubnis nähern, ohne sofort abgeschossen zu werden. Doch was war mit dem Meer?, fragte sie sich. Immerhin lag Tallinn an der Küste, und es gab auf dem Finnischen Meerbusen genug Schiffe, Jachten und Fischerboote. Da brauchte nur eines mit weitreichenden Raketen bestückt sein. Sie schüttelte sofort den Kopf. Um Tallinn herum standen mehrere Batterien modernster Luftabwehrgeschosse. Außerdem kreisten speziell ausgerüstete Hubschrauber über der Stadt. Da kam auch keine Rakete durch. Es sei denn, sie wurde so nahe abgefeuert, dass keine Zeit mehr für Gegenmaßnahmen blieb.
An Hoikens’ Stelle hätte sie einen solchen Schlag gewagt. Kurz entschlossen rief sie einen zweiten Bildschirm auf, um die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs zu berechnen. Das Ergebnis war nicht gerade berauschend. Ein solches Schiff hätte zuerst ungesehen durch den Radarschirm der Ronald Reagan und der Küstenstationen kommen und dabei den Patrouillenbooten der estnischen Marine und US Navy ausweichen müssen. Außerdem hätte es nach dem Abschuss einer Rakete keine Möglichkeit mehr gehabt zu entkommen.
»Sinnlos!« Der Klang ihrer eigenen Stimme kratzte an Petras Nerven. Trotzdem ließ der Gedanke ans Meer sie nicht los. Sie schaltete erneut auf die USS Ronald Reagan um und sah sich deren Radarergebnisse an. Es waren Hunderte von Schiffen unterwegs. Die meisten von ihnen hielten jedoch auf Helsinki zu oder fuhren nach Narva und Sankt Petersburg weiter. Um Tallinn herum war das Seegebiet ebenso abgesperrt worden wie der Luftraum über der Stadt.
»Auch eine Niete«, setzte Petra ihr Selbstgespräch fort. Torsten hatte ihr gesagt, sie müssten versuchen, sich in Hoikens’ Situation zu versetzen. Doch manchmal zweifelte sie daran, dass Torsten den Neonazi am Flughafen von Tallinn überhaupt gesehen hatte. Kein vernünftiger Mensch würde in dieser schwer bewachten Stadt einen Anschlag wagen. Sogar die Al Kaida begnügte sich damit, kleine Stiche gegen amerikanische und englische Einrichtungen in Afrika und einigen muslimischen Staaten durchzuführen, also in Gegenden, in denen die Attentäter auf die Hilfe einheimischer Kräfte zurückgreifen und danach in der Masse der Menschen verschwinden konnten.
»Torsten ist kein Idiot. Er weiß, was er sagt!« Petra dachte nach und zuckte plötzlich zusammen. Die ganze Zeit dachten Torsten und sie über einen einzigen Anschlag nach. Der jedoch schien schlicht unmöglich. Aber hatte Torsten nicht selbst einmal von einem Ablenkungsmanöver gesprochen und Hoikens ein Genie des Terrors genannt? Petra führte erneut eine Wahrscheinlichkeitsberechnung durch, und diesmal war das Ergebnis ziemlich eindeutig. Laut Computer lag die Erfolgschance eines solchen Unternehmens bei mehr als einem Drittel. Für einen Mann wie Hoikens mochte das reichen.
Doch wie sollte sie herausfinden, wie dieses Ablenkungsmanöver geplant war? Es konnte nicht direkt in der Stadt gestartet
werden, sondern musste von außerhalb kommen. Ein Angriff aus der Luft schied ebenso aus wie Raketen, die aus der Umgebung abgefeuert wurden.
»Es bleibt also doch nur die See!« Petra wusste nicht, warum sie sich dessen so sicher war. Doch ein Aufruhr im Hafen oder wenigstens in der Bucht von Tallinn würde die Aufmerksamkeit vom Tagungsgelände ablenken und unter Umständen jene Lücke in den Abwehrkordon reißen, die Hoikens brauchte.
Petra schoss hoch und rannte aus dem Zimmer. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis der Aufzug kam, doch dann fuhr sie hoch bis zum Terrassencafé und erreichte keuchend den Tisch, an dem Graziella und Torsten saßen. Sie hatte die beiden aus dem Zimmer gescheucht, um in Ruhe arbeiten zu können, und wie es aussah, hatte es sich gelohnt.
Graziella zog die Mundwinkel nach unten, weil Petra mit ihrem Erscheinen die romantische Stimmung zerstörte, die eben zumindest ansatzweise geherrscht hatte.
Torsten hingegen sah Petra wie elektrisiert an. »Und? Hast du etwas herausgefunden?«
Petra nickte, obwohl es nicht mehr als ein vager Verdacht war. Doch es konnte die Spur sein, die sie so dringend
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