Tallinn-Verschwörung
Solange sie in finnischen Gewässern fuhren, waren sie Angler, die zu den besten Nachtfanggründen strebten. Erst später, wenn die Küste Finnlands hinter ihnen lag, würden sie die gesamte Schnelligkeit der beiden Flitzer ausnützen, um Tallinn in kürzester Zeit zu erreichen. Danach … Renzo brach diesen Gedankengang ab und ertappte sich dabei, wie er sich bekreuzigte. Er wunderte sich darüber, denn seit seiner Firmung hatte er keine Kirche mehr betreten.
Mit einem schnellen Schritt stieg Renzo an Bord des vordersten Bootes und stieß es vom Steg ab. Einer der Männer hatte sich ans Steuer gesetzt. Er war bei der Marine gewesen und schien froh zu sein, wieder den Geruch des Meeres in der Nase zu spüren.
»Haltet euch eng hinter uns«, rief Renzo Tino zu. Dann richtete er seinen Blick nach vorne, wo er die estnische Küste wusste. Obwohl Renzo sich für einen mutigen Mann hielt, spürte er, dass die Angst mit ihm fuhr. Es gab einfach zu viele Unwägbarkeiten, an die er bis zu diesem Augenblick nicht zu denken gewagt hatte. Was war, wenn sie durch einen dummen Zufall einer estnischen Patrouille über den Weg liefen, oder gar einem amerikanischen Aufklärer? Würden die estnischen Parolen, die ihnen ein Gesinnungsfreund aus dem Verteidigungsministerium in Tallinn hatte zukommen lassen, dieser Prüfung standhalten?
Um sich abzulenken, dachte Renzo an Mazzetti, der in Tallinn saß und darauf wartete, dass der Aufruhr im Stadtteil Kadriorg losbrach. Wahrscheinlich würde er jetzt am Fenster stehen und beten, dass der Angriff misslang. Renzo lachte wütend und reckte die Faust in die Richtung, in der er die Stadt wusste.
»Das hättest du wohl gerne, du kleiner Pisser! Aber wir werden siegen!« Danach richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Positionslichter der Schiffe, die auf dem Finnischen Meerbusen fuhren, und versuchte, Kurs und Geschwindigkeit abzuschätzen. Es war nicht mehr als Beschäftigungstherapie, denn in jedem der beiden Boote saß ein Mann an einem tragbaren Radargerät und behielt die Gegend im Auge.
ZWANZIG
P etra Waitl wischte sich eine Strähne ihres nass geschwitzten Haares zurück und starrte mit brennenden Augen auf ihren Computerbildschirm. Sie ärgerte sich über Torsten, über Graziella, über die ganze Welt und am meisten über
sich selbst. In den letzten Tagen hatte sie fast pausenlos vor ihrem Laptop gesessen und sich in Hunderte von Dateien eingeschlichen, ohne auch nur den geringsten Anhaltspunkt zu finden.
»Und so was nennt sich Genie«, murmelte sie in bitterer Selbstverspottung. Einige Male war sie schon kurz davor gewesen, einfach aufzugeben. Die Sicherheitsvorkehrungen dieses EU-Gipfels waren schlicht und einfach perfekt. Zusätzlich zur estnischen Polizei und zu den Armeeeinheiten befanden sich US Seals hier, englische SAS-Truppen, Einheiten spanischer, französischer und weiterer Antiterroreinheiten einschließlich der deutschen GSG9 und darüber hinaus noch unzählige Geheimdienstleute. Petra konnte genau sagen, wo sich Torstens Vorgesetzter Wagner im Moment gerade aufhielt. Doch sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo Hoikens sich herumtrieb, und es gab keinen Anhaltspunkt, wie er an die Spitzenpolitiker herankommen wollte.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Torsten möglicherweise einem Hirngespinst hinterherlief. Immerhin gehörte Hoikens zu der Gruppe, die seine Freundin Andrea umgebracht hatte. Da mochte er diesem Mann Dinge unterstellen, die unmöglich waren. Bei diesem Gedanken kniff Petra die Lippen zusammen, bis sie nur noch einen Strich bildeten. Andrea war auch ihre Freundin gewesen – eine von zwei oder drei Frauen in ihrer Bekanntschaft, die sich nicht über ihren Technik- und Computerspleen lustig gemacht hatte. Für die meisten anderen war sie nur der fette, mondgesichtige Trampel gewesen, der sich mehr um seine Figur als um sein nächstes Computerprogramm hätte kümmern sollen. Auch ihre männlichen Bekannten hatten sie zumeist nur verspottet. Aber das hatte sie nur in dem Vorsatz bestärkt, auf diesem Gebiet besser zu sein als alle anderen. Torsten Renk war einer der wenigen gewesen, der ihre Fähigkeiten
wirklich anerkannt hatte, und sie war gerade dabei, ihn zu enttäuschen.
»Verdammt, ich muss etwas finden!« Petra hieb mit der flachen Hand auf ihren Oberschenkel. Der Schmerz ließ sie aufstöhnen, machte sie aber wieder wach. Ihre Finger flitzten über die Tastatur, und sie klinkte sich in den Bordcomputer der USS Ronald Reagan ein. Mit
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