Tallinn-Verschwörung
religiösen Kreisen gehabt und ganz bestimmt nicht zu Rechtsradikalen. Aber nur diese beiden Gruppen konnten
den konspirativen Treffpunkt im obersten Stockwerk des Hochhauses angelegt haben. Die Anlage bestand insgesamt aus etwa fünfhundert Wohneinheiten und wurde meist von Ausländern, Sozialfällen und skurrilen Typen bewohnt, die kaum ein Vermieter gern bei sich sah. Hier fiel niemand auf. Da die Gruppe das oberste Geschoss des Hauses für sich reserviert hatte, musste sie auch nicht damit rechnen, dass jemand dort ausstieg und ihre Treffen durch Zufall entdeckte.
Andrea hatte wohl das Pech gehabt, in die falsche Wohnung gezogen zu sein. Oder hatte man sie ermordet, weil sie seine Freundin war und die Kerle, die sich hier trafen, geglaubt hatten, sie würde ihnen nachspionieren? Torstens Gesicht wurde bei diesem Gedankengang hart wie Stein, und er schob jede Überlegung, den Fall aus den Händen zu geben und den zuständigen Behörden zu überlassen, weit von sich.
Um zu erreichen, dass der Mord an Andrea gesühnt wurde, musste er die wenigen Spuren sorgfältig verfolgen. Als Erstes würde er in Erfahrung bringen, wer seiner Freundin diese Wohnung verschafft hatte und wem sie wirklich gehörte. Es hatte etwas mit der Klinik zu tun, so viel glaubte er zu wissen. Doch welche Stelle oder Person dafür verantwortlich war, hatte Andrea ihm nicht erzählt. Kurz entschlossen öffnete er die kleine Kommode, die neben der Couch in der Ecke stand und in der Andrea ihre Unterlagen und Notizen aufbewahrt hatte. Es dauerte eine Weile, bis er unter dem Wust der Papiere einen Notizzettel fand, auf dem ein paar Worte geschrieben standen.
»Dr. Normann wg. Wohnung fragen.«
Renk packte den Zettel, schnappte sich Andreas Handy und wählte die Nummer des Neuperlacher Krankenhauses, die rot unterstrichen auf einem Notizblock stand.
»Klinikum Neuperlach, Maier, grüß Gott!«, meldete sich eine genervt klingende Frauenstimme.
»Hier Renk! Ich muss dringend mit Dr. Normann sprechen. « Torsten hatte nicht vor, sich mit einer Ausrede abspeisen zu lassen. Sein Kommandoton schien zu verfangen, denn die Frau erklärte, dass sie ihn in die Station 2.4 weiterleiten würde, in der Dr. Normann Oberarzt sei.
»Danke!« Auch dieses Wort klang eher nach »Aber dalli!«.
Die Frau tat Torsten den Gefallen, denn es knackte nur ein Mal, und dann hörte er eine Männerstimme mit östlichem Zungenschlag.
»Klinikum Neuperlach, Station 2.4. Sie wünschen?«
»Ich will Dr. Normann sprechen!«
Am anderen Ende der Leitung blieb es eine Weile stumm, dann sagte sein Gesprächspartner: »Ich bedauere, aber Dr. Normann ist derzeit nicht auf der Station.«
»Wie kann ich ihn erreichen?«
»Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen«, kam es unglücklich zurück. »Dr. Normann ist bereits gestern nicht auf der Station erschienen und hat sich bisher auch nicht gemeldet. «
In Torstens Kopf schrillten mit einem Mal sämtliche Alarmglocken. »Was sagen Sie? Dr. Normann ist überfällig? Geben Sie mir sofort seine Adresse!«
Diesmal half jedoch auch die Autorität nicht, die Torsten in seine Stimme legte. Der Pfleger wand sich wie ein Aal und erklärte, dass er Dr. Normanns Adresse aus Datenschutzgründen nicht weitergeben dürfe.
Torsten ließ sich auf keine fruchtlose Diskussion ein, sondern beendete das Gespräch, zog den zweiten Band des Telefonbuchs von München aus dem Regal und blätterte es durch, bis er den Namen Normann fand. Er kannte zwar den Vornamen nicht, doch es gab nur einen Doktor darunter, und dessen Wohnung befand sich in Schwabing ein Stück hinter dem Hohenzollernplatz.
Da Torsten auch diesmal zu angespannt war, um auf den Bus zu warten, eilte er mit langen Schritten zur U-Bahn. Er musste einmal umsteigen, um den Hohenzollernplatz zu erreichen.
Dort angekommen, drängte er sich zwischen einigen trödelnden Frauen hindurch und ignorierte das »Rüpel«, das ihm eine davon nachrief, ebenso wie den erstaunten Blick einer jungen Mutter, als er sich auf der Rolltreppe an ihrem Kinderwagen vorbeizwängte, obwohl ihm das höchstens ein paar Sekunden einbrachte.
Fünf Minuten später stand er vor dem Haus, in dem ein Dr. Normann lebte. Dem Erhaltungszustand des Gebäudes zufolge handelte es sich um eine der besseren Wohnanlagen in dieser Gegend. Er fand den Namen des Arztes auf dem Klingelschild und läutete Sturm.
Der Erfolg war gleich null. Er klingelte noch einmal bei Dr. Normann und dann wahllos bei anderen Bewohnern. Eine
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