Tallinn-Verschwörung
sie es vorhin bei der Hausdame gesehen hatte. Es gelang ihr leichter als erwartet, das Brett herauszunehmen. Als sie in die entstandene Öffnung griff, brachte sie eine alte Ledermappe zum Vorschein, die das Wappen der Familie Rocchigiani trug. Graziella öffnete sie und entdeckte, dass sie mit mehreren Papierbündeln gefüllt war. Das erste trug von Rocchigianis Hand geschrieben die Aufschrift »Winter«. Ein weiteres »Die Söhne des Hammers«.
Ein paar Zeilen in jedem Akt zeigten Graziella, dass sie fündig geworden war. Sie drückte die Mappe an sich und sah die Hausdame voll ängstlicher Hoffnung an.
»Diese Unterlagen würde ich gerne meinem Großonkel bringen. Er wird sie lesen wollen und als letzten Gruß seines alten Freundes in Ehren halten.«
FÜNFUNDZWANZIG
I m Westen von München erstreckte sich nördlich der Stuttgarter Autobahn eine Siedlung aus Einfamilienhäusern, die ein langes, schmales Band bis fast zum Langwieder See bildeten. Am äußersten Ende stand eine gut erhaltene Villa mit einer Dreiergarage vor dem Haus und einem großen, von hohen Thujenhecken gesäumten Garten. Mehrere alte Obstbäume und Ziertannen reckten ihre Äste in den Himmel, und zwischen ihnen standen etliche Büsche, die so geschickt angeordnet waren, dass sie den Blick auf die Rückseite der Villa verstellten.
Auf der von außen nicht einsehbaren Terrasse lag ein junger Mann in Khakishorts und kurzem Hemd auf einem Liegestuhl. Neben ihm stand ein kleines fahrbares Tischchen mit einer Flasche Mineralwasser, aus der er gerade sein Glas füllte, und einem Stapel Zeitungen. Selbst im Liegen wirkte der Mann groß, schlank und muskulös. Mit seinem offensichtlich durchtrainierten Körper, dem ebenmäßigen Gesicht und dem hellblonden, sehr kurzgeschnittenen Haar hätte er einem Hollywood-Film entsprungen sein können.
Ein Stück hinter ihm, dicht neben der offenen Terrassentür saß der Neonaziführer Rudolf Feiling in einem schreiend bunten Hawaiihemd. Auf dem Kopf trug er eine Baseballmütze mit einem großen Schirm, mit dem er sich gegen die Sonne schützte. Auch er hielt ein Glas in der Hand, das allerdings mit einem anderen Getränk gefüllt war, und prostete dem Jüngeren zu.
»Das mit der Moschee hast du sauber hingekriegt, und das mit dem Minarett hinterher – das muss dir erst einmal einer nachmachen.«
»Und dabei auf die Schnauze fallen.« Hans Joachim Hoikens,
der Sprengstoffexperte der Gruppe, lachte selbstgefällig. »Es ist gut, dass es jetzt endlich losgeht. Ich habe verdammt lange darauf gewartet. Um was sollen wir uns als Nächstes kümmern?«
»Ich habe noch keine neuen Informationen erhalten. Aber es dürfte nicht lange dauern, bis unsere Talente wieder gefragt sind!«
»UNSERE Talente?«, fragte Hoikens gedehnt. Schließlich besaß er als einziges Mitglied der Gruppe das Wissen, um solche Sprengstoffanschläge planen und durchführen zu können. Er reckte sich und trank einen Schluck Wasser, bevor er weitersprach. »Schade, dass ich wegen der Sache mit der Moschee nicht an eurem Treffen teilnehmen konnte. Ich hätte diesen Schwarzkittel gerne kennengelernt.«
»Das wirst du schon noch.« Obwohl der mehr als zwanzig Jahre jüngere Hoikens als sein Nachfolger galt, reagierte Feiling eifersüchtig auf den Wunsch des Mannes, in Gespräche mit wichtigen Personen eingebunden zu werden.
»Das nächste Mal nimmst du mich mit und nicht Florian! « Hoikens’ Forderung klang wie eine Warnung.
Feiling beschloss, sie zu ignorieren. »Florian ist immerhin mein Leibwächter.«
»Und was für einer! Mit ihm fällst du noch bei Neumond und Stromausfall auf.« Hoikens mochte den bulligen Kerl nicht, der Feiling ständig begleitete. Gewohnt, sich möglichst unauffällig zu bewegen, schüttelte er den Kopf über das provozierende Erscheinungsbild des Mannes, das geradezu nach rechtsradikaler Szene schrie.
Auch Feiling war in letzter Zeit nicht mehr allzu glücklich mit seinem glatzköpfigen Bodyguard im LONSDALE-Shirt, aber es war ein Kamerad aus alten Tagen, dessen Treue erprobt war. Florian hatte es nicht verdient, einfach beiseitegeschoben
zu werden, doch auf solche Dinge nahm ein Egozentriker wie Hoikens keine Rücksicht.
Der Exsoldat war ein ausgezeichneter Kämpfer und hatte die Nerven besessen, sich zwischen den Polizeiabsperrungen hindurchzuschleichen, um auch noch das zweite Minarett zu sprengen. Es schien ihm Spaß zu machen, Dinge zu zerstören, und er hatte bereits einige andere Gebäude genannt, die
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