Tallinn-Verschwörung
waren sie vollkommen auf diese Leute angewiesen, und das ärgerte ihn.
Feiling wusste ebenso wie sein Stellvertreter, dass es ihm zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr gelingen würde, einen größeren Teil der freien Kameradschaften unter seinem Kommando zu halten. Nach diesem Tag würde die Bewegung wieder in kleinere Gruppen zerfallen und die Leute ihren lokalen Anführern nachlaufen. Von denen war jedoch
keiner in der Lage, die nationale Revolution in Deutschland zum Sieg zu führen.
»Wir brauchen einen spektakulären Erfolg, damit die Kameraden wieder zu uns aufschauen«, sagte er zu Hoikens, während er auf Täuberichs Rückruf wartete.
»Ich war ohnehin dafür, mehr Aktionen wie die gegen die Moschee durchzuführen und solche Idioten wie Kobner außen vor zu lassen. Aber du warst von seiner Treue so gerührt, dass du ihn behalten und uns damit ins Abseits gekickt hast.« Hoikens’ Worte kamen einer Kampfansage gleich.
Feiling musterte seinen Stellvertreter und begriff, dass der Mann von diesem Augenblick an sein erbitterter Widersacher im Kampf um die Führerschaft der rechten Szene sein würde. Doch noch waren sie aufeinander angewiesen.
Als das Telefon anschlug, schnappte Feiling nach dem Hörer. »Ja?«
»Die Wege des Herrn führen ihn nach Kapernaum!« Mehr hörte er nicht, nur noch das Klacken, mit dem die Verbindung unterbrochen wurde.
»Verdammter Idiot!«, fluchte Feiling.
Hoikens erhob sich. »Was ist los?«
»Treffpunkt Kapernaum. Dafür müssen wir quer durch die Stadt, und dort gibt es derzeit mehr Bullen als Ratten!«
»Wir fahren besser außen herum.« Hoikens nahm den Schlüssel des unauffälligen, aber stark motorisierten Mittelklassewagens an sich, der auf ein bisher noch nicht polizeibekanntes Mitglied ihrer Gruppe zugelassen war, und wies auf die Tür.
»Wollen wir nichts mitnehmen?«, fragte Feiling erstaunt.
»Das Auto ist für einen schnellen Aufbruch vorbereitet. Keine Angst, wenn die Bullen kommen, werden sie hier nichts finden außer einem großen Loch!« Hoikens lachte, als
mache es ihm Spaß, die Villa, in der sie die letzten Jahre recht bequem gelebt hatten, in die Luft zu sprengen. Sein Anführer fluchte, sah aber ein, dass dies die beste Methode war, verräterische Spuren zu verwischen.
FÜNFZEHN
I n ihrer Wohnung in der Hiltenspergerstraße in Schwabing verfolgte zur selben Zeit Nina Parucker die Nachrichten. Ihre Gedanken galten dabei weniger dem völlig verwüsteten Gebiet um den Marienplatz als vielmehr dem Mann, der laut Polizei den Aufruhr ausgelöst hatte. Sie weinte, als Florian Kobners Leichnam auf dem Bildschirm gezeigt wurde. Der Kommentar des Sprechers, dass es sich bei ihm um ein hochrangiges Mitglied einer verbotenen Gruppierung handele, interessierte sie nicht. Sie dachte an den Florian, den sie kennengelernt hatte, ein wenig unbeholfen, ein wenig rau, aber ein ausgezeichneter Liebhaber. Nun machte sie sich Vorwürfe, weil sie ihm nicht eher den Vorschlag gemacht hatte, zu ihr zu ziehen. Vielleicht hätte sie ihn noch rechtzeitig aus seinem Umfeld lösen können. Sie hielt ihn für keinen fanatischen Neonazi, sondern für jemanden, der einer stärkeren Persönlichkeit nachlief und alles tat, um von dieser anerkannt zu werden. In ihren Augen war er in die falschen Kreise geraten und hatte damit sein Unglück herbeigeführt.
»Nicht nur seines, sondern auch das meine«, flüsterte sie mit bleichen Lippen. »Ich habe ihn geliebt und mich seiner trotzdem geschämt!«
Während weitere Bilder von den Verwüstungen in München über den Schirm liefen, glitten Ninas Gedanken zurück zu jenem Tag, an dem sie Florian kennengelernt hatte.
Er war vor der Polizei geflohen, die ihm wegen einer Schlägerei bei einer Demonstration auf den Fersen war. Wenn sie ihn nicht zu sich in die Wohnung genommen hätte, wäre er erwischt worden. Sie wusste selbst nicht mehr, warum sie es getan hatte. Vielleicht war es Mitleid mit dem Burschen gewesen, der zerschlagen, blutend und gehetzt vor ihr aufgetaucht war. Gewiss hatte auch ihre Unzufriedenheit über die langweilige Ehe dazu beigetragen, denn ihr Mann war mehr mit seinem Geschäft verheiratet gewesen als mit ihr. Sie hatte Florians Schrammen verbunden und ihn dabei schlichtweg verführt. Von da an war er zur Würze ihres Lebens geworden, und doch hatte sie es nicht über sich gebracht, ganz zu ihm zu stehen.
Sie seufzte und blickte in den Spiegel. An diesem Tag konnte sie die Jahre sehen, die sie zählte. Bei Florian hatte
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