talon008
murmelten einen dumpfen Singsang vor sich her. Wäre eine der beiden Frauen der alten Sprache mächtig gewesen, hätte sie dem gebetsartigen Inhalt folgen können, auch wenn sie die Worte nicht beruhigt hätten.
‚Schatten der Erde’, löste es sich von den vollen Lippen. ‚Rot befleckt dein schwarz’ Antlitz, genährt durch die Ernte deiner Feinde.’
Sie setzten ihr Gebet fort, während sich Talon und Shion kaum zwei Schritt voneinander entfernt gegenüberstanden. Minuten lang taxierten sie sich, lauerten auf eine Bewegung des anderen, jeder Muskel ihres Körpers angespannt.
Ohne den Angriff anzukündigen, stießen beide vor. Beide wichen dem Ansturm nicht aus. Keiner von ihnen war bereit, nachgeben. Talon drückte den schweren Leib des Löwen nach oben, die Hände fest in die Mähne des Tieres gekrallt. Shion stieg auf die Hinterbeine auf. Seine Pranken fuhren links und rechts des Mannes ins Leere. Er konnte kaum die Balance halten und brüllte voller Zorn auf.
Sein gewaltiges Maul näherte sich dem Kopf des Mannes, dessen Muskeln bis zum Äußersten angespannt waren. Hart drangen die Sehen an Talons Unterarmen hervor und zeichneten ein grobes Muster auf die Haut. Er drückte den wuchtigen Schädel etwas zur Seite. Ungläubig sah er, wie sich zwischen den leuchtenden Zahnreihen ein Schlund auftat, dessen glühendes Rot sich in einem dumpfen Wabern verlor.
Talon konnte nichts erkennen, das auf Muskeln und Fleisch deutete. Es schien, als existiere jenseits des Maules etwas anderes, das nicht in diese Welt gehörte. Einen Augenblick lang zögerte er.
Diesen Moment der Schwäche nutzte Shion sofort aus. Seine mächtigen Kiefer zuckten vor. Talon konnte seinen Kopf gerade noch zurückreißen. Vor seinen Augen schlossen sich die Zahnreihen mit einem dumpfen Knirschen. Alleine durch sein Gewicht drängte er den Menschen zurück. Wieder und wieder musste Talon einen Fuß nach hinten setzen, um seinen Halt nicht zu verlieren. Schmerzen zogen durch seine Sehnen, die der Belastung nicht mehr viel entgegenzusetzen hatten.
Der Mann aus dem Dschungel ignorierte sie. Alles in ihm konzentrierte sich auf die schwarze Masse, die er zwischen seinen Händen fühlte. Talons Finger hatten sich tief in das gegraben, das er in diesem Schatten als Hals vermutete. Er spürte, wie sie weiter vordrangen und schloss sie zu Krallen.
Alice Struuten und Janet Verhooven waren längst nicht mehr in ihrer Deckung geblieben. Sie waren nahe an den Rand der Empore herangetreten und folgten gebannt dem Kampf, der unter ihnen wütete. Alice spürte, wie auch ihre Begleiterin längst ihre gewohnte Gelassenheit aufgegeben hatte. Sie beide unterdrückten die aufgewühlten Gefühle, die sie erfüllten. Der Fotografin fiel das Atmen schwer. Ihr Herz schlug heftig in der Brust. Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich die Fingernägel schmerzhaft in das Fleisch gruben.
„Gott, bitte, lass’ ihn gewinnen!“, flüsterte sie heiser. Sie wusste selbst nicht, was geschehen mochte, falls der Kampf tatsächlich so ausging. Keine von ihnen konnte abschätzen, was die Wächter des schwarzen Löwen unternehmen würden. Ebenso wenig war sich Alice darüber im Klaren, ob sie den Mann noch begleiten wollte. Sie hatte die letzten Stunden eine Seite an ihm erleben müssen, die sie schaudern ließ. Auf ihrer Flucht in die Freiheit hatte er mehrere Menschen kaltblütig und mit einer Gnadenlosigkeit beseitigt, mit der sie nicht gerechnet hatte. All die Romantik eines Mannes aus der Wildnis war dem Bild eines Tieres gewichen, das nur einen Weg kennt, um sein Ziel zu erreichen.
Sie hatte kurz darüber mit Janet gesprochen, und sie wusste, dass es der blonden Frau nicht anders ging. Ihre einzige Hoffnung war, dass Talon überhaupt noch daran interessiert war, sie in die Freiheit zurück zu führen.
Shions Hieb mit der Schnauze traf Talon unvorbereitet.
Die schwarze Masse prallte hart gegen seine Stirn und riss eine Wunde oberhalb der linken Augenbraue auf. Blutend taumelte der Mann zurück. Er konnte die Bewegung nicht mehr abfangen und stürzte schwer zu Boden. Benommen blickte Talon empor und wartete darauf, dass der Löwe sofort nachsetzte.
Doch die Flanken des schattenhaften Raubtieres zitterten und ließen ihn verharren. Aus der Tiefe seines Körpers drang ein dunkles Grollen. Er machte einen Schritt zurück. Und dann sah Talon den dünnen Faden, der sich aus den wabernden Formen löste und zu Boden tropfte.
Der Stein glänze schwarz auf.
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