Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
ihm saß und die Arme um Tobins Hüfte geschlungen hatte. In dem Traum lebte Bruder; Tobin spürte, wie die Brust des anderen Jungen warm und fest gegen seinen Rücken drückte und Bruders Atem in seinen Nacken hauchte. Die Hände um seine Hüfte waren braun und schwielig, unter den Nägeln klebte Dreck.
Tobins Augen füllten sich mit Freudentränen. Er hatte einen echten Bruder! All der Rest – Dämonen, Zauberer und seltsame Trauen im Wald – war nur einer seiner schlimmen Träume gewesen.
Er versuchte, Bruder zu betrachten, um zu sehen, ob dessen Augen so blau wie die seinen waren, aber Bruder presste das Gesicht an Tobins Rücken und flüsterte: »Reite schneller; sie ist fast hier!«
Bruder fürchtete sich, was auch Tobin Angst einjagte.
Sie ritten weiter in die Berge, als es Tobin je zuvor getan hatte. Riesige, schneegekrönte Gipfel ragten rings um sie auf. Der Himmel verfinsterte sich, und ein kalter Wind peitschte sie.
»Was machen wir, wenn es dunkel wird? Wo werden wir schlafen?«, fragte Tobin und sah sich bestürzt um.
»Reite schneller«, flüsterte Bruder nur.
Als sie jedoch eine Biegung der Straße umrundeten, fanden sie sich am Fuß der Weide unterhalb der Feste wieder und hielten im Galopp auf die Brücke zu. Gosi wollte den Zügeln nicht gehorchen und anhalten …
Ruckartig erwachte Tobin. Nari stand über ihm und rieb seine Brust. Es war fast dunkel, und im Raum herrschte Kälte.
»Du hast den Tag verschlafen, mein Schatz«, sagte sie.
Es war nur ein Traum, dachte Tobin enttäuscht. Er spürte Bruder irgendwo in der Nähe, frostig und seltsam wie immer. Nichts hatte sich verändert. Tobin wollte sich herumrollen und wieder in den Traum zurückflüchten, aber Nari scheuchte ihn aus dem Bett.
»Du hast Besuch! Steh auf und lass uns diesen Kittel wechseln.«
»Besuch? Für mich?« Blinzelnd schaute Tobin zu ihr auf. Er wusste, dass er Bruder wegschicken sollte, doch da sich Nari bereits an ihm zu schaffen machte, war es zu spät dafür.
Sie legte die Finger an seine Stirn und schnalzte mit der Zunge. »Du bist eiskalt, mein Schatz! Ah, sieh nur – das Fenster hat den ganzen Tag offen gestanden, und du warst nicht zugedeckt. Ziehen wir dich um, damit du in die Halle kommen und dich aufwärmen kannst.«
Tobins Kopf schmerzte noch immer. Zitternd ließ er sich von Nari das zerknitterte Gewand ausziehen, dann schlüpfte er in das steife neue mit der Stickerei am Saum. Dieser Kittel war neben einem weiteren Satz guter Kleider – besser, als Tobin sie je getragen hatte – und einigen anderen hübschen Dingen für das Haus mit demselben Päckchen eingetroffen wie die Decke.
Als Tobin den Raum verlassen wollte, erspähte er Bruder in einem dunklen Winkel. Der Dämon trug dieselben neuen Kleider, aber sein Gesicht wirkte blasser, als Tobin es je gesehen hatte.
»Bleib hier«, flüsterte er. Während er Nari hinunterfolgte, fragte er sich, wie es sich anfühlen würde, einen lebendigen Bruder neben sich zu haben.
Abgesehen vom Kaminfeuer und ein paar Fackeln herrschte in der Halle Düsternis. Tobin, der sich noch jenseits der Reichweite des Lichts befand, sah die Leute am Kamin stehen, ohne selbst gesehen zu werden. Arkoniel, Köchin, Tharin und Mynir waren da und unterhielten sich in leisen Tönen mit einer alten Frau in einem schlichten, von Reisen gezeichneten Gewand. Sie hatte ein braunes, runzliges Gesicht und trug das dünne, graue Haar in einem Zopf über einer Schulter. War dies die ›sie‹, von der Bruder gesprochen hatte? Sie sah aus wie eine Bauersfrau.
Nari, die sein Zögern irrtümlich für Furcht hielt, ergriff seine Hand. »Hab keine Angst«, flüsterte sie und führte ihn weiter hinab. »Frau Iya ist eine Freundin deines Vaters und eine große Zauberin. Und sieh nur, wen sie mitgebracht hat!«
Als sich Tobin näherte, erkannte er, dass sich in den Schatten hinter der alten Frau ein weiterer Fremder aufhielt. Iya sagte etwas über die Schulter, und der Unbekannte trat ins Licht.
Es war ein Junge.
Tobins Herz sank. Dies musste der Gefährte sein, den man ihm versprochen hatte. Man hatte doch daran gedacht, obwohl sogar er selbst es völlig vergessen hatte.
Der Junge war größer als er und sah älter aus. Sein Kittel war bestickt, aber an den Säumen ausgefranst und unter einem Arm geflickt. Auf den Schuhen prangten Flecken, und Zwirn verschnürte seine Hose von den Knöcheln bis zu den Knien. Nari hätte Tobin für eine derart erbärmliche Aufmachung gescholten.
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