Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
verspürte keine Furcht vor ihr.
Sie wirkte kleiner und abgehärmter als in seiner Erinnerung, als hätte sie lange Zeit gehungert. Zudem prangten in ihrem Haar dichtere weiße Schlieren, doch ihr Körper war immer noch kurvig und vollendet, und sie bewegte sich mit demselben herausfordernden Schwung in den Hüften, der ihn einst so zermürbt hatte. Sie trat einen weiteren Schritt auf ihn zu, dann legte sie den Kopf schief und stemmte wie ein Fischerweib die Hände in die Hüften und musterte ihn mit einer Mischung aus Hitze und süßsaurer Verachtung in den schwarzen Augen.
Er stand dicht genug vor ihr, um Kräuter, Schweiß und feuchte Erde zu riechen, vermengt mit etwas anderem, das ihn an rossige Stuten erinnerte.
»Wann – wann bist du eingetroffen?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich immer hier sein. Wo du gewesen all die Zeit? Wie du dich kümmern, um was wir gemacht, wenn du so lange weg?«
»Du meinst, du warst all die Jahre hier in der Nähe der Feste?«
»Ich der Fürstin gehelft. Ich verfolgen, Wache halten. Helfen, damit Geist nicht so zornig.«
»Dabei bist du nicht besonders erfolgreich gewesen«, gab Arkoniel zurück und streckte ihr sein gebrochenes Handgelenk entgegen. »Tobins Leben ist deswegen elend.«
»Es wäre schlimmer, wenn ich nicht tun, was die Mutter zeigen«, entgegnete sie und schwenkte einen Finger vor ihm. »Du und Iya, ihr nicht wisst! Wenn eine Hexe einen Geist machen, dann sie …« Sie hob ihre Handgelenke überkreuzt an, als wäre sie gefesselt. »Iya sagen: ›Du gehen nach Hause, Hexe. Nicht kommen zurück.‹ Sie nicht weiß.« Lhel klopfte sich an die Schläfe. »Dieser Geist hat mir geruft. Ich ihr sagen, aber sie nicht zuhört.«
»Weiß Rhius, dass du hier bist?«
Lhel schüttelte den Kopf. Dabei löste sich ein Ohrwurm aus einer Haarsträhne und krabbelte über ihren nackten Arm davon. »Ich immer nah, aber nicht zu sehen.« Sie lächelte vielsagend und verblasste vor seinen Augen. »Du das können, Zauberer?«, flüsterte sie, war plötzlich hinter ihm und so dicht an seinem Ohr, dass er ihren Atem spüren konnte. Sie hatte weder ein Geräusch verursacht, noch Abdrücke auf dem Boden hinterlassen.
Arkoniel zuckte von ihr weg. »Nein.«
»Ich dir zeigen«, flüsterte sie. Eine unsichtbare Hand streichelte seinen Arm. »Dir zeigen, wovon du träumen.«
Die Erinnerung an die aus der Luft erschienenen Menschen drang wieder in seine Gedanken vor.
Dies war ihr Werk.
Gefangen zwischen dem Wasser und den unsichtbaren Händen, die seine Brust zu streicheln versuchten, wich Arkoniel stockend zurück. »Hör auf damit! Das ist nicht der rechte Zeitpunkt für deine neckischen Spielchen.«
Etwas prallte heftig gegen seine Brust und schleuderte ihn rückwärts in den Schlamm am Rand des Wassers. Ein Gewicht senkte sich auf seine Rippen, drückte ihn zu Boden, und Lhels moschusartiger, ungewaschener Duft spülte über ihn hinweg. Dann war sie schlagartig wieder sichtbar und kauerte nackt auf ihm.
Seine Augen weiteten sich vor Verwunderung. Auf ihren Bauch war der dreiphasige Mond tätowiert – ein Kreis, gesäumt von zwei nach außen weisenden Sicheln, und konzentrische Schlangenmuster bedeckten jede ihrer vollen Brüste. Weitere Symbole zierten ihr Gesicht und ihre Arme. Er hatte solche Zeichen schon einmal gesehen, eingeritzt in die Wände der Höhlen auf der geheiligten Insel Kouros und an Felsen entlang der Küste Skalas. Laut Iya waren solche Male bereits alt gewesen, lange bevor der Priesterherrscher in die Drei Länder kam.
Unfähig, sich zu bewegen, fragte er sich, ob Lhel diese Symbole zuvor verborgen gehabt hatte oder ob sie ein weiteres Trugbild darstellten. Jedenfalls schien unbestreitbar die eine oder andere Art mächtiger Magie daran beteiligt. Eine Kraft, die unmöglich ihrem zierlichen Körper entstammen konnte, drückte ihn flach zu Boden, als sie sein Gesicht zwischen die Hände nahm.
Du und deinesgleichen schätzt mein Volk und meine Götter gering. Ihre wahre Stimme drang in seinen Geist ein, bar jedes Akzents und mit tadelloser Ausdrucksweise. Ihr haltet uns für schmutzig und denkt, wir betreiben Totenbeschwörung. Ihr seid stark, ihr Orëska, aber ihr seid auch oft Narren, geblendet von Stolz. Deine Lehrmeisterin hat mich um einen mächtigen Bann gebeten und mich danach respektlos behandelt. Wegen ihr habe ich die Mutter und die Toten beleidigt.
Zehn Jahre lang habe ich über diesen Geist und über das Kind gewacht, das an ihn
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