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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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einem Ort, wo niemand sie findet.«
    Bruder verschwand. Tobin sah sich um und entdeckte ihn bei der Truhe, wo er ihm ein Zeichen gab.
    Tobin schlüpfte aus dem Bett, schlich über den kalten Boden und betete, dass Ki nicht aufwachen würde. Der Deckel öffnete sich von selbst, als er die Hand danach ausstreckte. Einen Lidschlag lang stellte er sich vor, wie Bruder ihn aus Bosheit zuschlug, während er hineingriff, was er jedoch nicht tat. Behutsam kramte Tobin den Mehlsack unter dem raschelnden Pergament hervor und tapste auf Zehenspitzen hinaus auf den Flur.
    Es war sehr spät. An der Treppe, die hinab in die Halle führte, schimmerte kein Licht. Die Flurlampe war erloschen, aber vereinzelte Mondlichtstreifen spendeten genug Licht, um etwas zu erkennen.
    Bruder zeigte sich nun nicht. Tobin drückte sich die Puppe an die Brust und überlegte, wohin er gehen sollte. Arkoniel schlief noch immer im Spielzimmer nebenan, bald jedoch würde er in die frisch instand gesetzten Räume oben übersiedeln, somit kamen sie nicht in Frage. Auch unten gab es keinen Ort, an dem nie jemand nachsah. Vielleicht konnte er sich wieder in den Wald hinausstehlen und versuchen, ein trockenes Loch zu finden. Aber nein, die Türen würden allesamt verriegelt sein, außerdem konnten sich nachts im Wald Berglöwen herumtreiben. Elend schauderte Tobin. Seine nackten Füße schmerzten vor Kälte, und er musste pinkeln.
    Ein Knarren von Angeln ertönte vom fernen Ende des Flurs, als die Tür zum dritten Stockwerk aufschwang und im Mondlicht wie Silber schimmerte. Der Durchgang dahinter glich einem schwarzen Maul, das darauf wartete, ihn zu verschlingen.
    Ja, es gab einen Ort, an den nie jemand ging außer Bruder. Und Tobin selbst.
    Bruder tauchte an der offenen Tür auf. Er sah Tobin an, dann drehte er sich um und verschwand die dunkle Treppe hinauf. Tobin folgte ihm und stieß sich die nackten Zehen an Stufen, die er nicht erkennen konnte.
    Im oberen Flur strömte Mondlicht durch die neuen Rosettenfenster und warf schwarze und silbrige Spitzenmuster an die Wände.
    Tobin musste allen Mut zusammennehmen, um sich der Turmtür zu nähern; er vermeinte zu spüren, dass der zornige Geist seiner Mutter auf der anderen Seite stand und ihn durch das Holz finster anstarrte. Ein paar Schritte davor hielt er inne; sein Herz hämmerte so heftig, dass ihn das Atmen schmerzte. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre geflüchtet, aber er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal, als er hörte, wie sich das Schloss öffnete. Langsam schwang die Tür auf und offenbarte …
    Nichts.
    Seine Mutter stand nicht dort. Ebenso wenig sein Bruder. Hinter der Tür herrschte solche Dunkelheit, dass der spitzenartige Mondschein nach nur wenigen Zoll zu einem trüben Schimmer verblasste. Ein Strom kalter, schaler Luft umspülte seine Knöchel.
    Komm, flüsterte Bruder aus der Finsternis.
    Ich kann nicht!, dachte Tobin, doch irgendwie folgte er der Stimme bereits. Mit den Zehen fand er die erste, abgewetzte Steinstufe und setzte den Fuß darauf. Die Tür schloss sich hinter ihm und sperrte das Licht aus. Der Bann, unter dem Tobin stand, zerbrach. Er ließ die Puppe fallen und fasste nach dem Türgriff. Das Metall fühlte sich so kalt an, dass es auf seiner Handfläche brannte. Die Holztäfelung der Tür schien mit Frost überzogen, als er mit den Fäusten dagegenhämmerte. Die Tür rührte sich nicht.
    Hinauf, drängte Bruder.
    Tobin sackte gegen die Tür zusammen und schluchzte panisch. »Fleisch, mein Fleisch«, brachte er schließlich hervor. »Blut, mein Blut; Knochen, mein Knochen«, und da war Bruder am Fuß der Treppe, gekleidet in ein zerlumptes Nachthemd und die Hand nach Tobin ausgestreckt, damit er ihm folgte. Als sich Tobin nicht bewegte, kauerte sich Bruder vor ihn und blickte ihm eindringlich ins Gesicht. Zum ersten Mal sah Tobin, dass Bruder dieselbe kleine, halbmondförmige Narbe am Kinn hatte wie er selbst. Dann zog Bruder den Kragen seines Hemds auseinander und zeigte ihm, dass er noch eine weitere Narbe besaß. Tobin erblickte zwei schmale, lotrechte Nähte auf Bruders Brust, sehr dicht beisammen und vielleicht drei Zoll lang. Sie erinnerten Tobin an die Nähte von Mutters Puppen, aber die Stiche wirkten feiner, und die Haut ringsum war runzlig und blutig.
    Das muss wehtun, dachte Tobin.
    Tut es, die ganze Zeit, flüsterte Bruder, und eine blutige Träne kullerte ihm über die Wange, bevor er wieder verschwand und den Anschein von Licht mit sich

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