Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
nahm.
Tobin tastete blind umher, fand die Puppe und schob die Füße über den Steinboden, bis er wieder auf die erste Stufe stieß. Die Dunkelheit verursachte ihm ein Schwindelgefühl, weshalb er die Treppe auf Händen und Knien hinaufkroch, während er den Sack mit der Puppe neben sich herschleifte. Seine Blase war so voll, dass es schmerzte, doch er wagte nicht, hier in der Finsternis rinnen zu lassen.
Während er sich emporkämpfte, stellte er fest, dass er ein paar Sterne durch die Pfeilscharten über ihm erkennen konnte. Dies half ihm, sich zurechtzufinden, und er eilte die letzten Stufen hinauf. Wie er erwartet hatte, stand die Tür oben offen. Alles, was er noch zu tun hatte, war, die Puppe zu verstecken. Dann konnte er sich einen Nachttopf oder auch nur ein offenes Fenster suchen, um sich zu erleichtern, und ins Bett zurückkehren.
Mondlicht flutete die Kammer. Bruder hatte die Läden geöffnet. Die wenigen Male, die sich Tobin gestattet hatte, an diesen Raum zu denken, hatte er sich an ein behagliches Zimmerchen mit Behängen an den Wänden und Puppen auf einem Tisch erinnert. Nun sah er vor sich ein Schlachtfeld. In seinem Gedächtnis klafften immer noch riesige Lücken über seinen letzten Besuch hier, aber der Anblick des zerbrochenen Stuhlbeins regte etwas Düsteres und Schmerzliches in seiner Brust.
Seine Mutter hatte ihn hier heraufgebracht, weil sie Angst vor dem König hatte.
Sie war aus dem Fenster gesprungen, weil sie sich so sehr gefürchtet hatte.
Und sie hatte gewollt, dass er auch sprang.
Zögernd trat Tobin ein und stellte fest, dass nur das nach Westen zu den Bergen weisende Fenster offen stand.
Dasselbe Fenster, durch das …
Von dort stammte das Licht. Er stellte sich davor, als könnte ihn der weiße Schein des Mondes vor all den schattigen Ängsten schützen, die rings um ihn aufkeimten. Sein Fuß stieg gegen eine zerbrochene Stuhllehne, dann trat er auf einen weichen Klumpen. Es war der Arm einer Puppe. Tobin hatte seine Mutter hunderte davon machen gesehen. Jemand …
Bruder
… hatte die Habseligkeiten seiner Mutter über den ganzen Boden verstreut.
Stoffballen waren in eine Ecke geworfen worden, und Mäuse hatten Löcher in die kleinen Stopfwolleknäuel genagt. Tobin drehte sich langsam im Kreis und hielt in den Trümmern Ausschau nach den wunderbaren Jungenpuppen, konnte jedoch keine entdecken, nur Fetzen und Lumpen.
Etwas, vermutlich eine Garnspule, fiel klimpernd zu Boden, und Tobin zuckte zusammen.
»Mama?«, krächzte er und betete, dass sie hier wäre.
Zugleich betete er, dass dem nicht so sein möge.
Er wusste nicht, welches ihrer Gesichter sie ihm nun, da sie tot war, zeigen würde.
Tobin hörte ein weiteres leises Klopfen, und eine Ratte wuselte mit einem Maul voll Wolle über den Boden.
Langsam löste Tobin den verkrampften Griff um den Mehlsack. Bruder hatte Recht. Dies war der beste Ort.
Niemand kam je hierher.
Niemand würde hier nach etwas suchen.
Er trug den Sack zu einer vom Mond erhellten Ecke gegenüber der Tür. Dort stellte er ihn auf dem Boden ab, zog einen Stuhl darüber und häufte darauf noch etwas von den muffigen Stoffresten. Staub stieg in funkelnden Wolken auf und kratzte ihm in der Kehle.
So. Das wäre geschafft.
Die Aufgabe hatte seine Furcht gebannt, aber als er aufstand, spürte er, wie sie zurückbrandete. Hastig wandte er sich der Tür zu und versuchte, nicht daran zu denken, dass er in der Dunkelheit diese steile Treppe zurück hinab musste.
Seine Mutter zeichnete sich als Umriss am offenen Fenster ab. Er erkannte sie an der Form ihrer Schultern und daran, wie ihr Haar lose darüber hing. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, um den Ausdruck ihrer Augen oder der Linien um ihren Mund zu deuten. Er wusste nicht, ob es die gute oder die Furcht erregende Mutter war, die einen Schritt auf ihn zutrat und die Arme ausstreckte.
Einen Lidschlag lang umfing Tobin blankes Grauen, während die Zeit stillzustehen schien.
Sie warf keinen Schatten.
Sie verursachte kein Geräusch.
Sie roch nach Blumen.
Dies war das Fenster, aus dem sie ihn zu werfen versucht hatte. Sie hatte ihn dorthin geschleift, schluchzend und den König verfluchend. Dann hatte sie ihn hinausgestoßen, aber jemand anders hatte ihn zurückgezogen, und er hatte sich auf dem Sims das Kinn aufgeschlagen …
Die Erinnerung schmeckte wie Blut.
Dann setzte er sich irgendwie in Bewegung, raste zur Tür hinaus, stolperte mit einer Hand an der rauen Steinmauer die Treppe
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