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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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wenngleich Ki selbst genug vergossen hatte.
    Und damit war er nicht der Einzige. Während er ersten paar Tage ertappte Tobin häufig Nari und Tharin dabei, wie sie sich die Augen abtupften, ebenso viele der Männer um die Truppenunterkünfte. Demnach stimmte mit Tobin eindeutig etwas nicht. Nachts begab er sich alleine zum Schrein, stand mit den Händen auf dem Aschekrug davor und versuchte, Tränen zu finden, aber sie wollten nicht einsetzen.
    In der dritten Nacht nach der Totenwache war es zu heiß zum Schlafen. Stundenlang lag er wach, beobachtete die um die Nachtlampe flatternden Motten und lauschte dem Chor der Frösche und Grillen auf der Weide unten. Ki schlief neben ihm tief und fest; er lag ausgestreckt mit offenem Mund auf dem Rücken, die nackte Haut von Schweiß benetzt. Seine rechte Hand ruhte ein paar Zoll von Tobins Oberschenkel entfernt, und gelegentlich zuckten die Finger im Traum. Tobin betrachtete seinen Freund und beneidete ihn um die Mühelosigkeit, mit der er zu schlafen vermochte.
    Je mehr sich Tobin nach Schlaf sehnte, desto mehr entzog er sich ihm. Seine Augen fühlten sich trocken wie kalte Glut an, und das Pochen seines Herzens schien das Bett zu erschüttern. Ein Strahl Mondlicht fiel auf die Kettenrüstung auf ihrem Ständer in der Ecke, bei der sich mittlerweile auch das Schwert befand, das den anderen zufolge ihm gehörte. Zu früh für das Schwert, dachte er verbittert, und zu früh für die Rüstung.
    Inzwischen hämmerte sein Herz heftiger denn je. Er kletterte aus dem Bett, zog ein zerknittertes Hemd an und schlich auf den Flur hinaus. Tobin wusste, dass unten in der Halle Bedienstete schliefen. Ginge er nach oben, konnte es sein, dass Arkoniel noch wach wäre. Doch Tobin war nicht danach zumute, mit ihm zu reden, und so ging er stattdessen ins Spielzimmer.
    Die Läden standen offen und gaben den Blick auf den Mond preis. In seinem Schein wirkte die Stadt beinah echt. Einen Augenblick stellte Tobin sich als Eule vor, die nachts über Ero flog. Dann trat er einen Schritt näher hin, und es war wieder bloß ein Spielzeug, die wundervolle Schöpfung, die sein Vater für ihn angefertigt hatte und mit der sie so viele glückliche Stunden verbracht hatten, anhand der er ihm Straßen und Seitenwege erklärt hatte.
    Und die Königinnen.
    Tobin brauchte nicht mehr auf einen Stuhl zu klettern, um die Ablage zu erreichen, auf der die Truhe mit den Figuren stand. Er holte sie herab, setzte sich neben die Stadt und reihte die Könige und Königinnen auf dem Dach des Alten Palastes nebeneinander: König Thelátimos und seine Tochter Ghërilain, die Begründerin, standen wie immer zusammen, dann die arme, vergiftete Tam í r, Opfer des Stolzes eines Bruders. Danach folgten die erste Agnalain, Klia und all die anderen bis hin zu Großmama Agnalain, die so verrückt wie ihre Tochter gewesen war. Arkoniels Geschichtsunterricht war viel tiefreichender gewesen als alles, was er von seinem Vater oder von Nari erfahren hatte. Mittlerweile wusste er von Großmamas Krähenkäfigen und Galgen und all ihren vergifteten und enthaupteten Gemahlen. Kein Wunder, dass die Menschen Onkel Erius die Prophezeiung missachten und den Thron übernehmen lassen hatten, als sie starb.
    Schließlich holte er die letzte abgeschundene, mehrfach wieder hergerichtete Figur aus der Truhe: den König, seinen Onkel. Für Tobin war er immer noch kaum mehr als ein Name in einer Geschichte, ein Antlitz, das er einst durch ein Fenster erblickt hatte.
    Er hat Mama mitgenommen.
    Tobin drehte die kleine Figur in den Händen und dachte an die vielen Male, die sein Vater den Leimtiegel hervorgekramt und sie nach einem von Bruders Angriffen wieder zusammengeflickt hatte. Mittlerweile hatte sich Bruder seit Jahren nicht mehr die Mühe gemacht, die Schnitzerei zu zerbrechen.
    Ein leises Geräusch ließ ihn blinzeln; Tobin blickte hinab und stellte fest, dass er dem König den Kopf abgerissen hatte. Er warf die Teile in die Schatten der Zitadelle und lauschte dem kurzen Klappern, als sie hinabkullerten.
    Diesmal würde sein Vater nicht mit einem Leimtiegel kommen, um die Figur wieder herzurichten.
    Die Erinnerung brachte andere mit sich, ein Bild nach dem anderen von seinem Vater, wie er lachte, Tobin etwas beibrachte, mit ihm spielte, zusammen mit ihm ausritt. Und dennoch konnte Tobin nicht weinen.
    In jenem Augenblick hörte Tobin einen leisen Schritt hinter sich und roch Holzrauch und zerstoßene grüne Triebe. Lhels schwarzes Haar kitzelte

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