Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
verschwunden.
K APITEL 35
Am Morgen nach der Totenwache erfüllte Tobin eine seltsame Ruhe, als er die Augen aufschlug. Ki schlief noch an seiner Schulter, den Kopf gegen Tobins Wange gedrückt. Tobin saß reglos da und versuchte, die eigenartige Leere unter seinen Rippen zu ergründen. Jedenfalls hatte er nicht dasselbe beim Tod seiner Mutter empfunden; sein Vater war wie ein Krieger ehrenvoll in der Schlacht gestorben.
Ki war schwer. Tobin verlagerte das Gewicht, wodurch Ki ruckartig erwachte. »Tob, geht es dir gut?«
»Ja.« Zumindest konnte er diesmal noch reden. Aber diese Ruhe in ihm fühlte sich wie ein lichtloses Loch oder die kalte Tiefe der Quelle neben Lhels Eichenhaus an. Es war, als starrte er in jenes dunkle Wasser hinab und wartete auf etwas, er wusste nur nicht, worauf.
Schließlich stand er auf und ging zum Schrein, um für seinen Vater zu beten. Tharin und die Adeligen waren verschwunden, aber Koni und einige der anderen Männer knieten immer noch dort.
»Ich hätte mit euch Wache halten sollen«, murmelte er und schämte sich dafür, geschlafen zu haben.
»Niemand hat das erwartet, Tobin«, erwiderte Koni freundlich. »Wir haben mit ihm Blut vergossen. Aber du könntest Opfergaben für den Schrein machen. Einundfünfzig Wachspferde, eines für jedes Jahr, das er gelebt hat.«
Koni erblickte die Wurzel, die Bruder gebracht hatte, und wollte sie entfernen. Tobin hielt ihn auf. »Lass sie.« Mittlerweile lag neben der Wurzel auch eine Eichel.
Tobin und Ki verbrachten den Vormittag im Spielzimmer, wo sie mit Bienenwachsbrocken saßen. Er hatte noch nie so viele Figuren auf einmal gemacht, und seine Hände fühlten sich bald wund an, aber er wollte nicht aufhören. Tobin ließ Ki das Wachs kneten, um es für ihn weich zu machen, aber er bestand darauf, die Pferde alle selbst zu formen. Er gestaltete sie so, wie er es immer getan hatte, mit gewundenen Hälsen und kleinen, spitzen Köpfen, ähnlich den Aurënfaie-Pferden, die er und sein Vater ritten, aber diesmal drückte er mit dem Daumennagel kurze Striche für die Mähnen hinein, die er zur Trauer gestutzt darstellte.
Sie waren noch bei der Arbeit, als Solari und Nyanis in ihren Reitmänteln zur Tür hereinschritten.
»Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden, Prinz Tobin«, sagte Nyanis und kniete sich neben ihn. »Wenn du in Ero bist, musst du mich zu deinen Freunden zählen.«
Tobin schaute von seinem Wachs auf und nickte. Dabei wunderte er sich darüber, wie ausgebleicht und stumpf Nyanis’ Haar geworden war, seit er den Mann zuletzt gesehen hatte. Als er klein gewesen war, hatte er immer gern beobachtet, wie der Feuerschein darauf glänzte, wenn sie am Kamin Gänsekaro gespielt hatten.
»Auch auf mich kannst du dich immer verlassen, mein Prinz«, ergriff Solari das Wort und drückte sich die Faust an die Brust. »Um deines Vaters willen werde ich mich immer als Verbündeter Atyions betrachten.«
Lügner, zischte Bruder, der unmittelbar hinter dem Mann stand. Er hat seinem Hauptmann gesagt, er würde selbst in einem Jahr Fürst von Atyion sein.
Verdutzt stieß Tobin hervor: »In einem Jahr?«
»In einem Jahr und hoffentlich immer, mein Prinz«, erwiderte Solari, aber als Tobin dem Mann in die Augen sah, wusste er, dass Bruder die Wahrheit gesagt hatte.
Tobin stand auf und verneigte sich vor beiden Männern, wie es sein Vater getan hätte.
Als die beiden den Flur hinab davongingen, drang Solaris lautes Flüstern zurück zu ihm. »Mir ist egal, was Tharin sagt, der Junge ist nicht …«
Tobin starrte Bruder an. Vielleicht war es nur eine Tücke des Lichts, aber der Geist schien zu lächeln.
Nari wollte Tobin bemuttern und bot sogar an, wieder mit ihm im Bett zu schlafen, wie sie es getan hatte, als er klein gewesen war, doch er konnte es nicht ertragen und stieß sie weg. Arkoniel und Tharin hielten Abstand zu ihm, blieben jedoch offenbar stets in seiner Nähe und beobachteten ihn stumm.
Die einzige Gesellschaft, die Tobin duldete, war jene Kis, und in den nächsten paar Tagen verbrachten sie viele Stunden gemeinsam außerhalb der Feste. Reiten war in den ersten vier Tagen der offiziellen Trauer ebenso verboten wie warme Mahlzeiten nach Sonnenuntergang, deshalb wanderten sie stattdessen über die Pfade und das Flussufer entlang.
Das Gefühl der inneren Ruhe verweilte beharrlich; Ki schien es zu spüren und verhielt sich ungewöhnlich still. Auch Tobins mangelnde Tränen um seinen Vater hinterfragte er nie,
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