Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Garde sprach kurz mit Orun, dann hob er seine Fackel an und salutierte vor Tobin.
Innerhalb der Mauern des Palatinkreises herrschte Finsternis und Stille. Tobin konnte wenig mehr als ein paar erhellte Fenster und die dunklen Umrisse von Gebäuden vor den Sternen am Himmel ausmachen, doch er spürte am Luftzug, dass es hier weniger beengt war. Die Brise wehte stärker und barg die Gerüche von frischem Wasser, Blumen, Schreinweihrauch und des Meeres. In jenem Augenblick waren die Könige und Königinnen nicht mehr bloß Namen aus dem Unterricht; sie waren seine Verwandten und hatten gestanden, wo er nun stand, gesehen, was er sah.
Als hätte Tharin seine Gedanken vernommen, verbeugte er sich im Sattel und sagte: »Willkommen zu Hause, Prinz Tobin.«
Ki und die anderen taten es ihm gleich.
»Der Königliche Prinz wird es kaum erwarten können, Euch zu begrüßen«, ergriff Orun das Wort. »Kommt, um diese Stunde sollte er noch mit den Gefährten zu Tisch sein.«
»Was ist mit meinem Vater?«, fragte Tobin und legte die Hand auf die Urne. Auch sein Vater war hier gegangen. Wahrscheinlich hatte er an genau derselben Stelle gestanden. Plötzlich fühlte sich Tobin sehr müde und überwältigt.
Orun zog eine Augenbraue hoch. »Eurem Vater?«
»Fürst Rhius hat den Wunsch geäußert, dass seine Asche neben jene von Prinzessin Ariani in die königliche Gruft gebettet wird«, klärte Tharin ihn auf. »Vielleicht wäre es am besten, wenn wir uns zuerst um die Toten kümmern, bevor wir den Lebenden unsere Aufwartung machen. Alle Riten wurden befolgt. Nur noch dies bleibt zu tun. Ich denke, Prinz Tobin hat diese Bürde lang genug getragen.«
Orun gab sich redlich Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. »Selbstverständlich. Da wir nun jedoch wohlbehalten angekommen sind, denke ich, wir finden ohne unsere Begleitgarde das Auslangen. Hauptmann Tharin, Ihr und Eure Männer solltet Euch ausruhen. Eure alte Unterkunft wurde für Euch instand gehalten.«
Tobin warf Tharin einen unglücklichen Blick zu. Die Vorstellung, an diesem seltsamen Ort mit Orun allein zurückzubleiben, entsetzte ihn.
»Prinz Tobin, wir haben deinen Vater begleitet, wohin er auch ging«, sagte Tharin. »Gestattest du uns, unseren Herrn mit dir zu seiner letzten Ruhestätte zu bringen?«
»Gewiss, Sir Tharin«, erwiderte Tobin erleichtert.
»Nun gut denn«, seufzte Orun und entließ seine eigene Garde.
Tharin und Koni borgten sich Fackeln von den Soldaten am Tor und gingen eine breite, von hohen Ulmen gesäumte Prunkstraße entlang voraus. Die uralten Bäume wölbten sich und bildeten einen raschelnden Tunnel, und zwischen ihren Stämmen hindurch erhaschte Tobin flüchtige Blicke auf Feuerschein, der in der Ferne hinter Säulen und hohen Fenstern schimmerte.
Nachdem sie den Tunnel der Bäume verließen, ritten sie durch einen offenen Park zu einem niedrigen Gebäude mit flachem Ziegeldach, das dicke, vom Alter geschwärzte Holzsäulen stützten. Auf Tharins Befehl hin bildeten die Soldaten eine Doppelreihe zu beiden Seiten des Eingangs und knieten sich nieder, die gezogenen Schwerter mit den Spitzen auf dem Boden vor ihnen.
Tobin stieg ab und ergriff den Krug mit beiden Armen. Mit Tharin und Ki neben ihm trug er die Asche seines Vaters zwischen den knienden Soldaten hindurch und betrat die Gruft.
Im Inneren stand in der Mitte auf einer Steinplattform ein Altar, und in einem großen Becken mit Öl brannte eine Flamme. Ihr Schein erhellte die Gesichter der lebensgroßen Steinbildnisse, die in einem Halbkreis um den Altar standen. Tobin vermutete, dass es sich um die Königinnen von Skala handelte. Die Altvordern.
Ein Astellus-Priester erschien und führte sie eine Steintreppe hinter dem Altar hinab in die Katakomben darunter. Im Licht seiner Fackel sah Tobin staubige Krüge wie jenen, den er trug, die sich in schattigen Nischen stapelten, außerdem Bündel aus Gebeinen und Schädeln auf Regalen.
»Dies sind die ältesten Toten, Herr, Eure ältesten Ahnen, die aufbewahrt wurden«, erklärte ihm der Priester. »Wenn sich eine Ebene füllt, wird eine neue ausgehoben. Eure verehrte Mutter liegt in der neuesten Gruft, tief unten.«
Sie stiegen fünf schmale Treppenfluchten in eine kalte, stickige Kammer hinab. In die Wände waren bis zur Decke Nischen gemeißelt, den Boden bedeckten hölzerne Totenbahren. Auf ihnen lagen in Bänder aus dickem, weißem Stoff gewickelte Leichname.
»Dein Vater hat entschieden, dass deine Mutter eingewickelt werden soll«,
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