Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
sein, aber du bist derjenige, der an seiner Seite sein wird. Du musst mir als Augen und Ohren dienen, Ki. Falls du irgendwelchen Ärger für ihn witterst, kommst du zu mir.«
»Das werde ich, Tharin.«
Einen Lidschlag lang fürchtete Ki, zu weit gegangen zu sein und den Mann verärgert zu haben, aber Tharin kicherte nur. »Ich weiß.«
Doch Ki spürte, dass der Hauptmann immer noch besorgt war, was ihn bewog, die Schnüre an seiner Scheide zu überprüfen. Er hätte nie gedacht, dass sich die Reise in die Hauptstadt wie der Ritt in feindliches Gebiet anfühlen würde. Ki wünschte nur, er wüsste weshalb.
Der Tag verstrich. Die Straße, der sie folgten, führte sie in flaches Schwemmland, angelegt in breiten Streifen und bestellt von Pächtern. Einige der Felder lagen brach und wurden von Unkraut überwuchert, andere waren bepflanzt, jedoch nur spärlich bewachsen oder von Krankheit befallen. Breite Streifen mit Getreide lagen grau, verrottet und geplättet da.
In den Dörfern der Gegend sah Tobin Kinder mit spindeldürren Beinen, aufgequollenen Bäuchen und dunklen Ringen unter den Augen. Sie erinnerten ihn daran, wie Bruder früher ausgesehen hatte. Die wenigen verbliebenen Rinder wirkten knochig, und in den Straßengräben lagen aufgedunsene Kadaver verstreut, an deren Augen sich Raben gütlich taten. Viele der Hütten in den Dörfern standen leer, einige waren niedergebrannt worden. An den meisten verbliebenen war der Halbmond Illiors auf die Vordertür gekalkt oder gemalt worden.
»Das ist merkwürdig«, fand er. »Ich hätte gedacht, die Menschen würden um Heilung oder gute Ernten zu Dalna beten.«
Niemand erwiderte etwas.
Als die Sonne hinter ihnen ihren langsamen Abstieg begann, kam aus dem Osten eine frische Brise auf, blies ihnen das Haar zurück und kühlte ihnen den Schweiß auf den Stirnen. Darin schwang leicht ein süßlicher, neuer Geruch mit, den Tobin nicht erkannte.
Orun bemerkte, wie er schnupperte, und lächelte milde. »Das ist das Meer, mein Prinz. Es wird bald in Sicht geraten.«
Ein Stück weiter begegneten sie einem Karren, beladen mit der seltsamsten Ernte, die Tobin je gesehen hatte. Die Masse einer grünlich braunen Pflanze waberte mit jedem Ruckeln und Holpern der Räder des Wagens. Ein merkwürdiger Geruch ging davon aus – salzig und zugleich erdig.
»Was ist das?«, fragte er naserümpfend.
»Seetang von der Küste«, erklärte Tharin. »Die Bauern düngen ihre Felder damit.«
»Aus dem Meer!« Tobin trieb Gosi zu dem Karren, beugte sich hinab und tunkte die Hand in die stinkende Masse. Im Inneren fühlte sie sich kalt, nass und ledrig an wie die Oberfläche von Köchins Kalbsfußaspik, nachdem er abgekühlt war.
Trockene, braune Hügel, die wie Schultern ohne Köpfe anmuteten, zeichneten sich gegen den Sonnenuntergang ab. Die schmale Sichel von Illiors Mond ging über ihnen auf. Orun hatte gesagt, sie würden bis zum Einbruch der Dunkelheit in Ero eintreffen, doch stattdessen schienen sie sich mitten im Nirgendwo zu befinden.
Die Straße stieg steil an. Tobin lehnte sich in den Steigbügeln nach vorn und trieb Gosi die letzten paar Meter zur Kuppe hinauf, dann schaute er auf und erblickte eine riesige, unvorstellbare weitläufige Fläche funkelnden Wassers, die sich unter ihm erstreckte. Die flüchtigen Eindrücke, die er aus Visionsreisen mit Arkoniel kannte, hatten ihn auf diesen Anblick nicht vorbereitet; sie waren verschwommen und von Dunkelheit gesäumt gewesen, zudem hatte seine Aufmerksamkeit anderen Dingen gegolten.
Ki ritt neben ihn. »Was hältst du davon?«
»Es ist – groß!«
Von dieser Stelle aus konnte er sehen, wie sich das Wasser zum Horizont hin krümmte, in der Ferne durchbrochen von Inseln jeder Größe, die durch die Wellen emporragten. Mit großen Augen starrte Tobin hinab und versuchte, das schiere Ausmaß des Meeres in sich aufzunehmen; jenseits all dieser Weiten lagen die Orte, von denen ihm sein Vater und Arkoniel erzählt hatten: Kouros, Plenimar, Mycena und das Schlachtfeld, auf dem sein Vater tapfer gekämpft hatte und gestorben war.
»Stell dir nur vor, Ki: Eines Tages werden wir dort draußen sein, du und ich. Wir werden auf dem Deck eines Schiffes stehen, zu dieser Küste zurückschauen und uns daran erinnern, dass wir einst genau an dieser Stelle auf das Wasser hinabgeblickt haben.« Er hob die Hand.
Grinsend ergriff Ki sie. »Als Krieger vereint. Genau wie …«
Er bremste sich rechtzeitig, doch Tobin wusste, was er
Weitere Kostenlose Bücher