Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
sagten wollte. Genau wie Lhel es vorhergesehen hat, als sie Ki das erste Mal auf der verschneiten Waldstraße begegnet ist.
Tobin sah sich um. »Aber wo ist die Stadt?«
»Ein paar Meilen nördlich, Hoheit.« Die Antwort stammte von dem blonden Zauberer. Er grüßte Tobin kurz, dann verschwand er zurück in die wuselnden Ränge.
Sie folgten der Straße über die Hügel, und bevor das letzte Licht im Westen schwand, überwanden sie einen weiteren Anstieg und erblickten Ero. Die Stadt schimmerte wie ein Juwel über ihrem breiten Hafen. Kurz verspürte Tobin Enttäuschung; auf den ersten Blick sah Ero überhaupt nicht wie die Spielzeugstadt aus, die sein Vater für ihn angefertigt hatte. Zum einen floss ein breiter Strom daran vorbei, zum anderen erstreckte sich die Stadt über einige sanfte Hügel, die sich um die Bucht krümmten. Bei näherer Betrachtung allerdings erkannte er die wogende Linie der Stadtmauer, die den Fuß des höchsten Hügels säumte. Dessen Kuppe krönte der Palatin, und Tobin vermeinte, dort das Dach des Alten Palastes auszumachen, das im schräg einfallenden Licht des Sonnenuntergangs wie Gold schimmerte.
Zum ersten Mal schien er den Geist seines Vaters neben sich zu spüren, der lächelte, während er Tobin all die Orte zeigte, von denen er ihm erzählt hatte. Hierher war sein Vater gereist, wenn er die Feste verlassen hatte; auf dieser Straße war er zu diesem Markt, zu diesem Hügel, zu diesen glänzenden Palästen und Gärten geritten. Tobin konnte beinah wieder seine Stimme hören, die ihm Geschichten über die Könige und Königinnen schilderte, die hier geherrscht hatten, und über die Priesterkönige, die vor ihnen die Geschicke aller Drei Länder von ihrer Inselhauptstadt aus gelenkt hatten, damals, als Ero noch lediglich ein von Plünderern aus den Hügeln heimgesuchtes Fischerdorf gewesen war.
»Stimmt etwas nicht, Tobin?«, fragte Tharin und musterte ihn besorgt.
»Es ist nichts. Ich habe nur gerade an Vater gedacht. Ich habe das Gefühl, die Stadt bereits ein wenig zu kennen …«
Tharin lächelte. »Das würde ihn freuen.«
»Aber es ist noch viel mehr an ihr dran«, meinte Ki, stets praktisch denkend. »Er konnte unmöglich alle Häuser und Elendsviertel und den ganzen Rest bauen. Die Hauptstraßen hatte er aber alle richtig.«
»Ihr beide haltet euch von den Gassen und Nebenstraßen fern«, warnte Tharin und bedachte Ki mit einem scharfen Blick. »Ihr seid noch zu jung, um alleine durch sie zu streunen, sei es bei Tag oder bei Nacht. Ich bin sicher, Meister Porion wird euch für Spaziergänge zumeist ohnehin zu sehr auf Trab halten, aber trotzdem will ich euer Wort darauf, dass ihr euch benehmen werdet.«
Tobin nickte, nach wie vor wie gebannt von den Wundern, die sich vor ihm erstreckten.
Sie brachen im Galopp auf und ritten den Rand des Hafens entlang. Die Salzluft befreite ihre Kehlen vom Staub. Über den Fluss spannte sich eine gewaltige Steinbrücke, breit genug, dass der Tross der Männer zu zehnt nebeneinander reiten konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite betraten sie den Stadtrand von Ero, wo Tobin am eigenen Leib erfuhr, weshalb die Hauptstadt auch Stinkendes Ero genannt wurde.
Tobin hatte noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen oder einen solchen Gestank gerochen. Da das Schlimmste, was er kannte, Rauch beim Kochen war, ließ ihn der vermengte Modergeruch von Abfall und menschlichen Ausscheidungen würgen und die Zähne zusammenbeißen. Die Häuser, die sich entlang der schmalen Straßen aneinander reihten, glichen klapprigen Hütten, schlimmer als jeder Kuhstall in Alestun.
Zudem schien es, als wäre jeder, der hier lebte, irgendwie entstellt. Tobin sah Stümpfe, wo sich Hände oder Beine befinden sollten, und vor Krankheit faulige Gesichter. Entsetzt erblickte er unter den zahlreichen Karren auf der Straße einen, auf dem sich Leichname türmten. Man hatte sie wie Feuerholz aufeinander gestapelt, und ihre Glieder erbebten bei jedem Holpern der Räder. Einige hatten schwarze Gesichter, andere waren so dürr, dass die Knochen durch die Haut schimmerten.
»Sie sind auf dem Weg hierher«, sagte Ki und deutete auf eine schwarze Rauchsäule in der Ferne. »Um Häuser niederzubrennen.«
Tobin blickte auf den Krug mit Asche an Gosis Seite hinab.
War sein Vater auch auf einem Totenkarren befördert worden? Er schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken.
Als sie an einer Schänke am Wegrand vorbeikamen, sah er zwei schmutzige Kinder
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