Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
sagte Tharin leise und führte Tobin zu einer der Nischen an der gegenüberliegenden Wand. Ein ovales Gemälde seiner Mutter bedeckte ihr Gesicht, die langen, schwarzen Haare ragten aus den Wickeln hervor und lagen zu einem dicken Zopf geflochten auf ihrer Brust. Sie wirkte sehr zierlich und klein.
Ihr dichtes Haar jedoch sah genauso aus wie im Leben und glänzte im Fackelschein. Tobin wollte es berühren, dann aber zog er die Hand zurück. Das Gemälde ihres Gesichts war gut gelungen, allerdings lächelte sie darauf so glücklich, wie er sie im Leben nie gesehen hatte.
»Ihre Augen waren genau wie deine«, flüsterte Ki, und Tobin fiel etwas überrascht ein, dass Ki seine Mutter nie gekannt hatte. Mittlerweile schien ihm, dass Ki schon immer bei ihm gewesen war.
Mit Tharins Hilfe hob er den Krug aus dem Netz und stellte ihn zwischen den Leichnam seiner Mutter und die Wand. Der Priester murmelte neben ihm Gebete, Tobin jedoch fiel nichts zu sagen ein.
Als sie fertig waren, sah sich Ki in der beengten Kammer um und stieß einen leisen Pfiff aus. »Die waren alle mit dir verwandt?«
»Wenn sie hier sind, dann müssen sie das wohl gewesen sein.«
»Ich frage mich, warum es so deutlich mehr Frauen als Männer sind. In Kriegszeiten sollte man meinen, dass es eigentlich umgekehrt sein müsste.«
Tobin stellte fest, dass Ki Recht hatte, wenngleich es ihm selbst zuvor nicht aufgefallen war. Zwar enthielt die Kammer durchaus auch einige Krüge wie jenen, den er mitgebracht hatte, aber viel mehr in Stoff gewickelte Leichname mit Zöpfen, und nicht alle davon waren erwachsene Frauen; er zählte mindestens ein Dutzend Mädchen und Kleinkinder.
»Komm«, seufzte er, zu überdrüssig des Todes, um sich den Kopf über für ihn Fremde zu zerbrechen.
»Warte«, entgegnete Tharin. »Es ist ein Brauch, eine Haarlocke als Andenken mitzunehmen. Soll ich eine für dich abschneiden?«
Abwesend hob Tobin die Hand an die Lippen, während er darüber nachdachte, und seine Finger betasteten die kleine, blasse Narbe an seinem Kinn. »Ein andermal vielleicht. Nicht jetzt.«
K APITEL 39
Nachdem sie die Gruft verlassen hatten, führte Orun sie den Weg zurück, den sie gekommen waren und bog auf eine Prunkstraße, die sie an offenem, von weiteren Bäumen gesäumtem Reitgelände vorbeiführte. Mittlerweile stand der Mond hoch am Himmel und warf einen fahlen Schein auf ihre Umgebung.
Dieser Teil des Palatinkreises erwies sich als schattiges Gewirr von Gärten und flachen Dächern. In der Ferne erblickte Tobin das Glitzern von Wasser; dort befand sich ein großer, künstlicher Teich, angelegt von einer der Königinnen. Vor ihnen sah er hinter weiteren Bäumen eine wirre, unebene Masse von niedrigen Dächern entlang der Ostseite der ummauerten Zitadelle.
»Das dort ist der Neue Palast«, erklärte Tharin und deutete auf den längsten Umriss zu ihrer Linken, »und das unmittelbar vor uns der Alte. Rings um sie erstreckt sich ein Irrgarten weiterer Paläste und Häuser, aber vorerst brauchst du dir die nicht zu merken. Wenn du deine Unterkunft bezogen hast, bringe ich dich zum Haus deiner Mutter.«
Tobin war zu erschöpft, um mehr aufzunehmen als den Eindruck von Gärten und Säulengängen. »Ich wünschte, ich könnte dort wohnen.«
»Das wirst du, wenn du erwachsen bist.«
Der Eingang des Alten Palastes löste sich vor ihnen aus der Dunkelheit, gesäumt von riesigen Säulen, flackernden Fackeln und einer Reihe von Soldaten in schwarzen und weißen Wappenröcken.
Tobin reichte Tharin die Hand und kämpfte mit Tränen.
»Sei tapfer, mein Prinz«, murmelte Tharin. »Ki, mach mich stolz.«
Der Augenblick des Abschied ließ sich nicht länger hinauszögern. Tharin und die anderen salutierten vor Tobin, dann ritten sie in die Finsternis davon. Fremde in Livreen eilten heran und umschwärmten sie, um sich um ihr Gepäck und die Pferde zu kümmern.
Kaum war Tharin verschwunden, drängte Fürst Orun wieder herbei. »Kommt, Prinz Tobin. Wir dürfen Prinz Korin nicht länger warten lassen. Du da, Junge.« Das zu Ki. »Hol das Gepäck des Prinzen!«
Ki wartete, bis der Mann ihm den Rücken zukehrte, dann bedachte er ihn mit einer unflätigen Geste. Tobin schenkte ihm dafür ein dankbares Lächeln. Auch einige der Palastdiener konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Orun scheuchte sie die Treppe hinauf. An zwei riesigen Bronzetüren, übersät mit tollenden Drachen, erwarteten sie weitere Diener in langen, weißen und goldenen Livreen.
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