Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Fenster hereindrangen. In der Feste hatte er nie jemanden betrunken erlebt. Es beunruhigte ihn.
Das war nicht, worauf er in all den Jahren gehofft hatte, die er die Straße nach Alestun hinabgestarrt hatte. Er war ein Krieger, kein Höfling, der die halbe Nacht hindurch in hübschen Kleidern Wein saufen wollte. Mit Mädchen!
Mit gerunzelter Stirn musterte er Kis friedlich schlummernde Umrisse. Im weichen Flaum, der seine Wangen bedeckte, fing sich das trübe Licht, das durch die Vorhänge drang. Tobin rieb sich über die eigenen, glatten Wangen und seufzte. Er und Ki waren gleich groß, aber seine Schultern wirkten immer noch schmal, und seiner Haut fehlten die Flecken und vereinzelten Haare, die Ki entwickelte. Tobin rollte sich noch eine Weile hin und her, dann fiel ihm ein, dass er Bruder völlig vergessen hatte.
Seine Lippen bewegten sich kaum, als er die Worte flüsterte. Bruder erschien kauernd am Ende des Bettes, die Züge unergründlich wie immer.
»Du darfst nicht herumstreunen«, sagte Tobin. »Bleib in meiner Nähe und tu, was ich sage. Hier ist es nicht sicher.«
Zu seinem Erstaunen nickte Bruder. Dann kroch er langsam das Bett herauf, berührte erst Tobins Brust, dann seine eigene und ließ sich am Fußende des Bettes nieder.
Tobin legte sich zurück und gähnte. Es fühlte sich tröstlich an, noch jemanden von zu Hause hier zu haben, selbst wenn es nur ein Geist war.
In einem an die derzeit leer stehenden Gemächer des Königs angrenzenden Flügel im Neuen Palast regte sich der Zauberer Niryn im Schlaf, aufgeschreckt von einem verschwommenen Bild, das nicht ganz Gestalt annehmen wollte.
K APITEL 40
Tobin erwachte bei Sonnenaufgang, blieb noch liegen und lauschte den unvertrauten Morgengeräuschen von draußen. Er hörte Menschenmengen, die lachten, redeten und unmittelbar vor der Tür flüsterten. Vom offenen Balkon drangen die Klänge von Reitern und Vögeln, von platschendem Wasser und der ferne Lärm der erwachenden Stadt herein. Selbst hier konnte der Duft von Blumen und Kiefern den aufsteigenden Gestank nicht verbergen, den die warme Meeresbrise herbeiwehte. Lag es tatsächlich erst einen Tag zurück, dass er zuletzt in seinem eigenen Bett die Augen aufgeschlagen hatte?
Seufzend schüttelte er die Woge des Heimwehs ab, die ihn zu überwältigen drohte.
Ki zeichnete sich als schnarchende Masse auf der anderen Seite des Bettes ab. Tobin warf ein Kissen auf ihn, dann rollte er sich zwischen den schweren Vorhängen hindurch und durchquerte das Zimmer, um einen Blick nach draußen zu werfen.
Es war ein weiterer klarer Sommertag. Von hier aus konnte er über die Palatinmauer zum südlichen Teil der Stadt und zum Meer sehen. Der Anblick war unglaublich. Durch den vom Wasser aufsteigenden Nebel und die schräg einfallenden Strahlen der aufgehenden Sonne ließ sich kaum erkennen, wo der Himmel endete und das Meer begann. Im Dunst des Morgengrauens schien Ero nur aus Feuer und Bäumen zu bestehen.
Vor dem Fenster erstreckte sich ein bunter Garten zu der Ulmenreihe, an der er in der vergangenen Nacht vorbeigeritten war. Bedienstete arbeiteten bereits mit Scheren und Körben, emsig wie zu Hause die Bienen auf der Weide.
Zu beiden Seiten erblickte er weitere Balkone, Säulen und vorstehende Ziegeldächer mit kunstvollen Kranzgesimsen und kleinen Skulpturen.
»Ich wette, man könnte über die Dächer vom Alten Palast bis zum Neuen gelangen«, meinte Ki, der sich hinter ihm näherte.
»Kann man«, bestätigte eine Mädchenstimme, die aus der Luft über ihren Köpfen zu stammen schien.
Die beiden Jungen wirbelten herum und schauten gerade noch rechtzeitig auf, um einen dunkelhaarigen Schemen hinter dem Dachgesims über ihrem Balkon verschwinden zu sehen. Nur das hastige Platschen von Füßen auf Fliesen verriet den Rückzug ihrer Besucherin.
»Wer war denn das?« Ki lachte und hielt Ausschau nach einer Möglichkeit, dem Mädchen zu folgen.
Bevor sie einen einfachen Weg nach oben finden konnten, kam ein Diener mit einem Gefolge weiterer Bediensteter herein, beladen mit Kleidern und Paketen. Er ging zum Bett, dann erblickte er die Jungen auf dem Balkon und verneigte sich tief.
»Guten Morgen, mein Prinz. Ich bin Euer Diener im Palast. Mein Name ist Molay. Und dies …« Er deutete auf die Reihe der beladenen Bediensteten hinter sich. »Sie alle bringen Geschenke von Euren adeligen Verwandten und Bewunderern.«
Die Bediensteten traten nacheinander vor und überreichten Tobin hübsche
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